Der junge, japanische Architekt Junya Ishigami plant Bauten, die von allen Sachzwängen befreit scheinen. Sie bestechen mit surrealer Anmut. Ishigami wurde 2024 mit dem Friedrich-Kiesler-Preis ausgezeichnet. Es war das 25-Jahr-Jubiläum der preisgebenden Stiftung, deren Mitbegründer John Sailer am 14. Mai starb.
Man hätte eine Stecknadel fallen hören: Gebannt folgte ein konzentriertes Publikum dem Vortrag von Junya Ishigami, bis zur Ausgangstür standen Zuhärende im Podium des Architekturzentrum Wien. Der junge japanische Architekt wurde heuer mit dem Friedrich Kiesler-Preis ausgezeichnet. Sein Englisch war selten katastrophal, seine Bauten sprachen ohnehin für sich. Derart außergewöhnlich bildgewaltige, poetisch und kraftvolle, mitunter landschaftsgestaltende Architektur sieht man selten. Ishigamis Projekte haben den Anspruch an unmittelbare Funktionalität weit hinter sich gelassen, ignorieren Sachzwänge aller Art, schaffen künstliche Landschaften und werden auch so genutzt. „Architektur ohne Poesie ist nichts als ein Dach“, sagte Friedrich Kiesler.
Die Dächer von Ishigamis Bauten legen sich wie Hügel oder Decken behutsam über offene Räume oder bilden gerade, flache Ebenen, die von lichten Glasbahnen perforiert sind, durch die der Himmel schimmert.
Um Haaresbreite aus dem Lot
Das Kanagawa Institute of Technology (KAIT workshop) in einem Vorort von Tokyo scheint fast immateriell. Rundherum raumhoch verglast, besticht es mit absoluter Akuratesse, die aber mit der Präzision eines Skalpells subtil unterlaufen wird. Es hat nur ein Geschoss und ist im Prinzip ein Quadrat von 45 x 45 Meter. Aber nicht ganz: seine Seiten stehen nicht 90°, sondern 84,36° zueinander. 305 weiße Säulen auf wolkigem, geschliffenen Estrich tragen das flache Kassettendach, in das gläserne Oberlichtstreifen eingeschnitten sind. Die Säulen folgen keinerlei Raster, sie stehen unregelmäßig wie Baumstämme in einem Wald, bilden Lichtungen, Freiflächen, Schutzräume. Wer hier einen Tisch aufstellt, muss sich einen Weg bahnen, wer hier eine Gruppe bildet, muss sich ein…