Der Dokumentarfilm „Architecton“ von Victor Kossakovsky ist ein bildgewaltiges Bekenntnis zum Stein. Die Kamera von Ben Bernhard verleiht ihm epische Dimensionen, denen ein Kreis aus Findlingen im Garten des italienischen Architekten Michele de Lucchi ein stilles Ende setzt.
Alles beginnt mit einem Drohnenflug über zerbombte Häuserfluchten irgendwo in der Ukraine. Man blickt in die augeweideten Strukturen der Plattenbauten mit ihren tragenden Außenmauern aus Ziegeln und den dünnen, staubigen Betonfertigteildecken, aus denen verbogene Bewährungseisen ragen. Langsam gleitet die Drohne von Geschoss zu Geschoss, sie gibt einem genug Zeit, zwischen den traurigen Überresten von Hohlblockwänden dorthin zu schauen, wo einmal Wohnungen waren. Hier eine Küche, deren Oberschrank noch verloren an der Wand hängt, eine Hälfte leer, von der anderen baumelt eine türkise Tür aus den Angeln, im Stockwerk darunter ein Kleiderschrank und ein paar schmutziggelbe Kacheln an einer Badezimmerwand. Irgendwo noch ein Stück Vorhang und die Fetzen einer scheußlichen Tapete. Vor gar nicht langer Zeit lebten hier noch Menschen, haben gekocht, gegessen, vor den Schranktüren Kleider anprobiert und an Kinderzimmertischen Hausübungen geschrieben.
Die Drohne gleitet über die Schuttberge am Boden, aus denen Textilien, zerborstene Möbel, Decken- un Wandteile ragen. Sie steigt auf und hebt zum Vogelflug über eine Trabentenstadt aus zehn, zwölf, vierzehn, zwanzig Stock hohen Wohnscheiben im Fertigteilbau an, die an ein paar Datschas grenzt. Die winzigen Holzhäuser in ihren Gärten wirken ziemlich unbeschadet. Je kleiner, desto resilienter. Sie scheinen den Bombenfliegern zu unbedeutend gewesen zu sein. Auch die hellblaue orthodoxe Kirche mit dem hohen Turm und ihr größeres Pendant mit der Kuppel haben den Beschuss doch etwas besser überstanden.
Schnitt. Steinbrocken, Felsstücke, Schotter in Grau- und Brauntönen fluten wie ein unendlicher Mahlstrom der Geschichte die Leinwand. Ein enormer Erdrutsch von archaischer Kraft, der alles mit sich reißt, zermalmt, unter sich begräbt. Diese Gesteinsbewegungen sind in atemberaubender Schärfe und Tiefe gefilmt, es wirkt, als kämen die Geröllmassen in Wellen, als schiebten sie sich förmlich vor, der Kameralinse entgegen. Ihr Knirschen ist unentrinnbar und unerbittlich, die suggestive Musik von Evgueni Galperine vertont die Bilder kongenial.
Steine in unterschiedlichsten Erscheinungsformen sind die Hauptprotagonisten dieses Films. Man begegnet ihnen als rohen Brocken, in der geometrischen Grundform einer Kugel, die ein Künstler behutsam in perfekter Balance auf einem spitzen Stein platziert, als ziselierter Schaft einer dorischen Säule in den Tempelruinen von Baalbeck.
Bescheidenheit ist der stille Gegenpol zum Pathos, der in der vergangenen Größe antiker Tempel ebenso liegt wie in der Monstrosität eines Krieges oder einer Naturgewalt. Auch die Häuser, die das verheerende Erdbeben in der Türkei im Jahr 2023 zerstörte, wird man sehen, einige weitere zerstörte Bauten und einiges an gebauter Schönheit, oft in Schwarz-weiß. All diese mächtigen Bilder bleiben unkommentiert, ohne Zeit und Ort. Wie ein roter Faden zieht sich die Entstehungsgeschichte eines Kreises im Garten des italienischen Architeken Michele De Lucchi durch den Film. Er legt mit zwei Arbeitern im Garten seines toskanisch anmutenden Wohnhauses einen Kreis aus Findlingen. Es regnet und schneit. Trotzdem schlägt er einen Pflock in der Mitte des Kreises ein. Bedachtsam wählt er die Länge des Fadens aus, der dessen Radius bestimmt. Der Arbeiter wird damit den Kreis ziehen und mit Pflöcken befestigen. „Ein magischer Kreis“, sagt der Architekt und tritt aus seiner Mitte. Kein Mensch soll ihn mehr betreten, nur Hugo, der Hund. Stück für Stück wählt De Lucchi die Steine aus, die diesen Kreis im Garten bezeichnen, Stück für Stück schlägt sie der Arbeiter mit dem Hammer in die Erde, gerade so tief, dass ihre Oberfläche in Hähe des Rasens hervorragt. De Lucci lehnt an einem dürren Baum, während der Schnee langsam auf seinem Mantel liegen bleibt. Die Behutsamkeit dieser kleinen Intervention steht im krassen Gegensatz zu der Lieblosigkeit billig produzierter Plattenbauten für die Masse.
„Architektur ist nur eine Möglichkeit, darüber nachzudenken, wie wir leben“, sagt Michele De Lucchi, der laut darüber nachdenkt, warum es in früheren Epochen möglich war, für Jahrtausende zu bauen, während Gebäude heute auf eine Lebenszeit von etwa 40 Jahren ausgelegt sind. Nach Wasser ist Beton das am meisten benötigte Material auf dieser Welt. Mit dem Universalwerkstoff lässt sich kostengünstig so gut wie alles bauen. 3D-Plotter, die Betonwürste gemächlich Reihe für Reihe, Kurve für Kurve zu Häusern mit runden Ecken übereinanderstapeln, zählen auch zu einer wiederkehrenden Sequenz in diesem Film.
„Wenn wir etwas gestalten, gestalten wir das Verhalten der Menschen“, sagt De Lucchi, der sich eine lebende Architektur wünscht. Im selben Atemzug bekennt er freimütig mit einer gewissen Resignation, gerade in Mailand eine dieser „Schachteln“ zu bauen. Ein Hochhaus, das vielleicht vierzig Jahre halten und bis dahin für den Investor wohl einiges an Gewinn abwerfen wird. Michele De Lucchi ist kein präpotenter Star-Architekt, er entwarf ikonische Objekte wie die höchst funktionale, formschöne Lampe Tolomeo für Artemide, erhielt viele Design-Preise und denkt Architektur immer im Dialog mit den Menschen, die in ihr leben. Trotzdem stellt er am Ende seines Architektenlebens fest, dass sie in der jetzigen Form gescheitert ist. Eine Bankrotterklärung dieses nachdenklichen, selbstreflexiven Mannes, die erschüttert. Sie müsste lebendig sein, die Architektur, sagt er. Der Erde keinen Sondermüll hinterlassen und in den Kreislauf der Natur zurückkehren. Eine schöne Vorstellung.