Die erste Monografie zum Gesamtwerk des Architekten zeigt die Details seiner vielfältigen Projekte in beeindruckenden Fotos von Cemal Emden. Auch die unbekannten kleinen Umbauten und Interiors sind in dem opulenten Band dokumentiert.
Das Apartment der Casa Ambrosini ist nur 57 Quadratmeter groß. Wände und Böden sind rundherum mit Holz verkleidet und in Vor- und Rücksprünge strukturiert. Schränke und Regale werden zum Teil des Raums und wiederholen den Rhythmus des durchgängig fließenden, grafisch gemusterten Parketts. Fensterrahmen und Türen reflektieren diese Dynamik und greifen dieselben Proportionen auf. Die Casa Ambrosini ist eine kostbare hölzerne Schatulle zum Wohnen – ein Gesamtkunstwerk, das bis in jedes Detail bedacht ist.

Carlo Scarpas Meisterwerk nahe des Markus Platzes in Venedig erzählt viel vom Selbstverständnis des venezianischen Architekten und von seiner Wertschätzung für das Handwerk, die lokalen Schreinereien und Metallwerkstätten. Jeder Zentimeter und jeder Lichtstrahl zählen in diesem Miniapartment, das bis heute privat und unzugänglich ist. Die Materialien sind ausgeglichen und balanciert, die Oberflächen samtig und doch kontrastreich. Es sind Scarpas Lieblingsmaterialien: Holz und Eisen, Naturstein und Glas.
Vom Türgriff zum Bankgebäude
Die neue englischsprachige Monographie von Emiliano Bugatti, Jale N. Erzen und dem Fotografen Cemal Emden ist bei Prestel erschienen und für alle Scarpa-Freunde und Freundinnen unumgänglich. Es ist die erste Monografie zu Carlo Scarpa, die sein Werk nahezu vollständig dokumentiert – mit über 50 größeren und winzigen Projekten. Natürlich zeigt der Band auch die berühmten Interventionen des Gestalters und Japan-Freundes, der 1978 in Sendai nach einem Sturz von einer Treppe starb. Meilensteine wie das Museo di Castelvecchio in Verona oder die Tomba Brion in Altivole bei Bassano del Grappa – ebenso in Venetien – sind ausführlich dargestellt.


Doch es sind eher die kleinen und unbekannten Entdeckungen wie die Casa Ambrosini, die dieses Buch besonders machen. Die unprätentiösen Fotos von Cemal Emden halten die Raumsituationen und viele Details im Großformat fest, beispielsweise die Türgriffe oder den Brunnenabfluss der Fondazione Quierini Stampaglia. Es sind genau diese Details, die Scarpas Werke besonders und bis heute legendär machen. Kurze Texte zu den Projekten geben die nötigsten Informationen – manchmal fallen sie leider allzu knapp aus.

Zwei Interviews von Emiliano Bugatti decken die Arbeitsweise Scarpas mit lokalen Handwerksbetrieben auf, die auch heute noch in Venedig familiengeführt sind. Und ein Essay der Kunsthistorikerin Jale N. Erzen ordnet Scarpas Werk zu Beginn des opulenten Buchs architektur- und kunsthistorisch ein.
Bauen im Bestand
Einflüsse wie den Frank Lloyd Wrights organischer Architektur sind in Scarpas Werk deutlich reflektiert – Scarpa selbst hat daraus kein Geheimnis gemacht. Trotzdem bleiben seine Projekte unvergleichbar und stehen für sich. Architektur sei gut, wenn sie sich gut anfühle, ohne dass die Menschen es merken – so eines der bon mots des Venezianers. Seine Interventionen realisierte er in unterschiedlichsten Maßstäben – vom Kunsthandwerk für die Glasfirma Venini aus Murano bis zu Interieurs wie dem berühmten Olivetti-Showroom am Markusplatz oder großen Bankgebäuden wie der Banca Popolare di Gemona. Berühmt wurde Scarpa vor allem für seine sorgfältigen Ausstellungsgestaltungen und für minimale Interventionen im Bestand: Türportale wie die das der Fakultät für Literatur und Philosophie an der Universität Va‘ Foscari von Venedig (1978) haben bis heute nichts an ihrer Zeitlosigkeit eingebüßt.

Scarpas Architektur verbindet Tradition und Moderne, sie interpretiert Vorhandenes und geht wie selbstverständlich mit großer Sorgfalt mit dem Bestand um. Genau das macht das Werk von Carlo Scarpa heute so aktuell. Die meisten Projekte befinden sich in Venedig und auf dem Festland nahe der Lagunenstadt – bis nach Bologna oder Udine. Vieles ist heute teils oder ganz zerstört, besonders die Interieurs. Dass es neben all den Ausstellungen und Forschungspublikationen zu Carlo Scarpa bislang keine umfassende Monografie gab, ist beinahe verwunderlich. Sie ist nun endlich bei Prestel erschienen. Die eindrucksvollen Fotografien von Cemal Emden machen Scarpas Raumkunst in all ihren Facetten lebendig – auch die nichtöffentlichen und verborgenen Orte.

Wir bedanken uns für diesen Beitrag bei Sandra Hofmeister und unserem Medienpartner castellobooks