E 1027 ist ein kryptischer Name für ein Haus, er steht auch für eine Beziehung: E wie Eileen, 10 für den zehnten Buchstaben im Alphabet, „J“, 2 für „B“ und 7 für „G“. Wie ein Schiff schwebt E 1027 über dem Meer. Eileen Grey und Jean Badovici haben es geplant, es war das schönste Haus der Cote d’Azur. Das irritierte Le Corbusier zutiefst. Die Dokufiktion „E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer“ von Regisseurin Beatrice Minger erzählt davon.
Es beginnt mit einem unwirklich blauen Himmel über einem unwirklich blauen Meer, dessen Wellen sich an steilen Felsklippen brechen. Die Kamera zoomt einen Handlauf aus Stahlrohr heran, der in beiläufiger Eleganz um die Ecke knickt. Sein Weiß leuchtet in diesem seltsamen Licht in hellem Blitzblau. „Mit diesem Haus fand ich etwas, von dem ich nicht wußte, dass ich es vermißte. Ich baute es mit Jean Badoviki“, sagt Eileen Gray (Natalie Radmall-Quirke) aus dem Off. Wir werden sie gleich sehen, eine schöne, blasse Frau mit vollen, schwarzen Haaren.

Fast körperhaft legt sich der kurze Pagenkopf um das schmale Gesicht mit den feinen, sensiblen Zügen. Bald wird sie von der Klippe ins Meer springen, unter die Wasseroberfläche tauchen und schwimmen. „Ich hatte den Ort gefunden, nach dem ich mich sehnte. Einen Ort, zu dem ich gehöre und eine Zeitlang konnte ich ihn sogar mit jemandem teilen.“
Freigeist
Das Meer und seine Weite stehen auch für die Freiheit des Denkens von Eileen Gray und der Eigenständigkeit ihres Werkes. Ihr erstes Atelier war ihr Badezimmer, sie begann mit Lackmöbeln, die Ausschläge auslösten, wechselte dann auf leichtere Materialien, Stahlrohr und Glas, legte sich eine eigene Werkstatt zu und entwarf avantgardistische Möbel, die bald Furore machten. Das Haus als Ort des Rückzugs, als Verlängerung des Körpers, Schutz vor der Witterung und einer lauten Welt, sowie ihre Beziehung zu Jean Badovici und der Absolutsheitsanspruch von Le Corbusier spielen hier die Hauptrolle. Der Film nähert sich dem Haus, seiner Entstehungsgeschichte und dem Beziehungsgeflecht, in das es eingesponnen sehr sensibel und findet eine sehr passende Ästhetik.

Die Architektur bedarf keiner Erklärung, sie spricht für sich. Für diesen Film hat man sie – Technik sei Dank – von Corbusiers dominanter, grellbunter Malerei befreit, damit sie wieder frei atmen kann. Ihre Atmosphäre ist eine gänzlich andere, zerbrechlicher, zarter und schöner. Tagebucheinträge von Eileen Gray aus dem Off, schlaglichtartig eingestreute Filmdokumente und fiktive Dialoge tragen die Handlung. Viele Szenen spielen auf einer schwarzen Studiobühne, die mehrere Schauplätze repräsentiert. Die schwarz-weißen Originalfilme lockern den Film erfreulich auf. Man hätte auch mehr davon vertragen.
„Sie könnten die ausdrucksstärkte Künstlerin unserer Zeit sein“, schwärmt Jean Bodovici (Axel Moustache) und wirft sich lässig in ihren assymetrischen Stuhl „nonconformiste“ auf der schwarzen Studiobühne, die in diesem Fall ihr Atelier darstellt. Der Architekt und Herausgeber der Avantgarde Zeitschrift „L’Architecture Vivante“ ist 15 Jahre jünger, um einiges leichtlebiger, erkennt ihre Begabung und ermutigte sie zur Architektur. „Sie bringen die Komplexität des Lebens zum Ausruck, das ist Avantgarde. Bauen Sie doch ein Haus! Ein Haus für Ihre Möbel.“ Sie starten los, wie zwei Stühle im schwarzen Raum zu Grays Auto Toto werden, Bodovici galant die imaginäre Tür öffnet, ihr das Lenkrad in die Hände fliegt und in die Überblendung der schwarz-weißen Pariser Realität eintaucht, ist eine der bezauberndsten Szenen des Films. In ihr findet die Leichtigkeit ihren Ausdruck, die Bodovici zum Geburtshelfer des Hauses werden lässt.

Eileen Gray bereist ikonische Bauten und nimmt alles auf „wie ein Schwamm.“ Sie renovierte alte Häuser, bevor sie E.1027 entwarf, drei Jahre verbrachte sie auf dem schmalen Grundstück, ihr Haus ist ein Gegenentwurf zu einer männlich geprägten Moderne, es ist sehr, sehr . „Ein Haus ist keine Maschine, es ist das Gehäuse, die Schale des Menschen, seine Erweiterung, seine Befreiung, seine spirituelle Ausstrahlung“, sagt Eileen Gray aus dem Off. „Das Haus ist eine Hülle, die uns sanft umgibt und uns vor unserer Umwelt beschützt.“ Auch das weiße Haus ist definitiv ein Hauptdarsteller dieses Films. Jedes Detail ist hier überlegt und ganz speziell für diesen Ort und dieses Haus gemacht. Die Fenster über dem Meer aus schmalen, vertikalen Glaslamellen in filigranen Stahlrahmen, lassen sich wie Faltwände zusammenschieben oder auffalten. Sie öffnen den Wohnraum zur Gänze zum Wasser und zum Himmel. Die vertäuten, dunkelblauen Planen, die sich als Dach und Brüstung über den Balkon spannen, die steile, weiße Treppe auf das Plateau am Eck, wo eine Hängematte diagonal zwischem weißen Geländern baumelt: hier ist nichts zufällig und tragen auch die weißen Wände ihre Botschaften mit Humor. „Falsche Richtung“, oder „Nicht lachen!“ steht da in schwarzen Buchstaben in einer schönen Typografie. Dieses Haus ist eine Persönlichkeit, es hat etwas fragiles, Wesenhaftes.
„Es lag versteckt vor neugierigen Blicken, total unzugänglich, leicht, weiß, mein Schiff. Die Einwohner verstanden nicht, niemand baut so nah am Meer. Sie waren nicht ganz falsch.“ Dann veränderte sich etwas, als ob der Wind sich gedreht hätte. Künstler strömten in die Cote d’Azur, Dokumetarfilme zeigen Tänzerinnen, eine mondäne Gesellschaft schlendert mit Sonnenschirmen an der Promenade von Nizza entlang. Die Ruhe ist vorbei, die Freunde kommen und immer öfter: Le Corbusier. Jean Badovici wird nicht mehr arbeiten, Eileen sich nicht mehr konzentieren können, nach zwei Jahren ihre Koffer packen, ihm das Haus überlassen und sich unweit davon ein eigenes, zweites, kleines Haus am Berg bauen, „Tempe à Pailla“, zwanzig Minuten und doch Lichtjahre entfernt.

Le Corbusier ertrug es nicht, dass das schönste Haus am Mittelmeer nicht von ihm war. Nachdem Eileen ausgezogen und Jean Badovici sein Besitzer war, sah er seine Chance gekommen. Der Redakteur hatte Le Corbusier ganze Ausgaben von „L’Architecture Vivante“ gewidmet, war beim vierten CIAM Kongress (Congrès Internatioaux d’Architecture Moderne) an Bord des Ozeandampfers SS Patris II auf seiner legendären Reise von Marseille nach Athen und wieder zurück. Er bewunderte Le Corbusier maßlos und erlaubte ihm, die Wände zu bemalen. Eileen Gray wurde nicht gefragt, wie bessesen machte sich Le Corbusier – teils nackt – daran, das Wesen dieses reinen, weißen, verspielten Hauses mit acht farbstarken, virilen, sexuell aufgeladenen Fresken zu ersticken. Einmal sieht ihn nackt von hinten, die schiere Lust, mit der ein Pinsel in fette, grelle Farben taucht, erzählt genug. Seine Wandmalereien wurden vielfach publiziert, en passant machten sie ihn vom Schänder zum Planer des Hauses, er ließ den Irrtum unwidersprochen. Später baute er sich am Nachbargrundstück sein berühmtes, fast zwanghaft plakativ auf das Nötigtse reduzierte Ferienhaus „Le Cabanon“. Corbusier ist beim Schwimmen im Meer ertrunken, E 1027 könnte durchaus das letzte gewesen sein, was er sah.
Der Film ist konzeptionell sehr stringent, er lässt seinen Charakteren, deren Beziehung und dem Publikum genug Raum. Das entspricht auch Eileen Gray, ihrer Lebendigkeit und Freiheit. Es dauerte seine Zeit, bis ihr Gerechtigkeit wiederfuhr. Erst ein Essay von Joseph Rykwert gab ihr 1967 die Autorenschaft über ihr Haus zurück, Architekturzeitschriften entdeckten es wieder, ihre Möbel gingen in Serienproduktion und ihre Orignale wurden zu horrenden Summen verkauft. Man sieht sie gegen Ende des Films als 96 oder 97 jährige. Sie weiß es nicht so genau, es macht auch keinen Unterschied. Sie faltet immer noch aus Papier einen kleinen Paravent und erklärt, wie er zusammengehalten werden soll. Über Corbusiers Fresken spricht sie längst ohne jede Bitterkeit.