Die Planstadt Candigarh ist ein weltweit einzigartige urbanistische Utopie, der große Le Corbusier hat sie entworfen und mit rigiden Baugesetzen vorgesorgt, dass sie auch so bleibt, wie er sie plante. Der Dokumentarfilm „Die Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh“ von Karin Bucher und Thomas Karrer porträtiert den gegenwärtigen Alltag dieser Stadt, der Sehnsuchtsort und Wunschdestination so gut wie aller Architekten ist.
Dunkelrote Ziegelmauern, weiße Wendeltreppen aus Beton, Fenster in roten, gelben und blauen Laibungen, Backsteine, die im rechten Winkel gegeneinander versetzt den perfekten Sonnenschutz bilden, dazwischen Parkanlagen, Bäume und ein künstlich angelegter See, selbst die Kanaldeckel sind hier mit einem abstrahierten Stadtplan gestaltet: „Welcome to Chandigarh, the City Beautiful“ Candigarh ist eine Utopie, das gebaute Versprechen einer besseren Zukunft für ein Land, das gerade erst unter großen Opfern das Joch der britischen Kolonialherrschaft abgeworfen hatte.1950 erteilte Jawaharlal Nehru, der Ministerpräsident der blutjungen Republik Indien dem großen Le Corbusier den Auftrag, eine Stadt zu planen. Im Kampf um Unabhängigkeit waren ein Teil der Provinz Punjab und dessen vormalige Hauptstadt Lahore an Pakistan gefallen, der verbliebene indische Teil brauchte eine neue Metropole.
Es war eine Sternstunde der Nachkriegsmoderne und der Beginn einer neuen Epoche: Der französische Architekt erträumte eine Einheit von Mensch und Natur. Als erstes wurde ein künstlicher See angelegt, die Suche nach einer besseren Zukunft führte mittellose Vertriebene nach Candigarh. Eine der größten Utopien der Moderne wurde von ihnen de facto in Handarbeit errichtet. Frauen mit geflochtenen Körben auf den Köpfen und Maulesel brachten das Baumaterial, Männer balancierten in schwindelnden Höhen auf Bambusgerüsten.
„Alles ist ruhig, langsam, harmonisch und liebenswürdig“, schrieb Le Corbusier in einem Brief an seine Frau Yvonne. „Ich bin mir der enormen Verantwortung bewusst, die ich mir sowohl in ästhetischer, als auch in technischer Hinsicht aufgeladen habe. Ich werde hier endlich zwischen diesen Menschen das Werk meines Lebens vollbringen.“ Doch Candigarh ist bei weitem nicht allein sein Werk. Hinter ihm standen sein Cousin Pierre Jeanneret, der de facto vor Ort die Stellung hielt, sowie das britische Architektenehepaar Maxwell Fry und Jane Drew, das viel Erfahrung mit dem Bauen in den Tropen hatte. Dazu kamen einige indische Kollegen, unzählige Bauarbeiter und -arbeiterinnen, sowie eine Regierung, die proaktiv sehr viel tat, um Menschen in die junge Stadt zu locken.
Der Stadtraum, den diese Architektur auf jeder Ebene schafft, prägt die Einwohnerschaft. Sie ist kosmopolitisch, weltoffen, aufgeschlossen. Mittelpunkt, es ist um ihn herum, für seinen Körper und de viel Luft, Sonne, Grün, in einem moderaten Maßstab. Der Architekt, der Clown, der Stadtforscher, der Spaziergänger, die Künstlerin, der Anwalt, der Wirt: fast alle, die hier zu Wort kommen, schwärmen von den räumlichen Qualitäten, der Großzügigkeit, Offenheit und Schönheit dieser modernen, grünen Stadt mit ihrem künstlich angelegten See, den vielen Parks und der atemberaubend schönen Architektur, deren Geometrie, Form und Materialität so elaboriert mit Sonne, Raum, Licht und Schatten spielt. Sie lieben die Freiheit, die sich ermöglicht.
Man sieht Menschen bei der gemeinsamen Gymnastik, beim Lachen im öffentlichen Raum, ein Kino, schmucke Reihenhäuser und das Regierungsviertel mit dem Hohen Gericht und dem ikonischen Parlamentsgebäude, das sich so einzigartig im Wasser spiegelt. Letzteres wurde 2016 in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Und dann kommt endlich auch Kritik an dieser Utopie, an der die Zeit und der Wandel von einer idealistischen zu einer kapitalistischen Gesellschaft nicht spurlos vorüber gegangen sind. Chandigarh ist eine flächige Gartenstadt, die sich schwer verdichten lässt. Le Corbusier konzipierte sie fußläufig, ihre Straßen kennen sieben Hierarchien, 45 Minuten Gehdistanz liegen zwischen ihrem südlichen und nördlichen Rand. Weitläufige Parks und Grünflächen durchziehen dieses Stadt, die in einem rechtwinkeligen Planungsraster folgt und in 52 Sektoren aufgeteilt ist.
Der große Architekt sorgte dafür, dass sein Werk so bleibt, wie sie ist. Die von ihm erlassenen Baugesetze lassen keine Veränderung zu. Das treibt die Immobilienpreise in die Höhe. Candigarh, dessen Mieten ursprünglich bei etwa zehn Prozent des Einkommens angesetzt waren, wird für die untere Mittelschicht zunehmend unleistbar. In der Stadt, die für 500.000 Einwohner ausgelegt war, lebten 2019 an die 1.150.000 Menschen, heute sind es sicher noch mehr. An den Stadträndern bilden sich Slums, dafür siedeln sich in der Stadt zunehmend sehr wohlhabende Menschen an. Le Corbusier plante ohne interkulturellen, kontextuellen Bezug, er war kaum in Indien. Die Stadt altert schlecht. Das subtropische Klima mit extremer Hitze, den starken Regenfällen und dem Monsun macht dem Beton zu schaffen.
Das Schönste an diesem Film aber ist, dass er zeigt, wie sich die indische Kultur eine rigide nach westlichen Lebensvorstellungen geplante Stadt nach und nach aneignet. In dieser interkulturellen Transformation, in der Fähigkeit zu Anpassung, Veränderung und Wachstum liegt die Zukunft von Candigarh.