Der Mont Saint-Michel in der Normandie ist Touristenmagnet, Nationaldenkmal und Unesco-Weltkulturerbe. Er drohte im Laufe der Jahre zu verlanden. Man baute einen Damm am Fluss Couesnon, entfernte die alte Deichstraße und organisierte die Zufahrt komplett neu. Dietmar Feichtinger Architectes planten den 760 Meter langen, einzigartig filigranen Brückensteg auf 134 zarten Stützen, der das Wasser wieder um den Klosterberg fließen lässt.
Der Bauplatz, seine Rahmenbedingungen und die vielen Zuständigkeiten der Bauherrenschaft, das Syndicat mixte Baie du Mont-Saint-Michel, das von Denkmalpflege bis Naturschutz alle Agenden vereinte, waren schwierig und komplex. Tangue, der organische, algenreiche, halbflüssig-glitschige Meerschlamm bildete einen fordernden Baugrund. Außerdem war die Baustelle dem ständigen Wechsel von Ebbe und Flut unterworfen, der Touristenstrom riss nie ab. Projektleiter Matthias Neveling zog eigens in die Normandie, um ständig vor Ort zu sein. Nun ist der Damm am Fluss Couesnon gebaut, sind die alte Dammstraße und 15 Hektar Parkplatz abgetragen, Steg, Deichstraße und Ankunftsplateau errichtet. Bei Flut ragt der Mont hoheitsvoll aus dem Wasser und spiegelt sich im Meer. Ein Wunder.
20.000 Menschen pilgerten zur Eröffnung im Oktober, um es zu feiern. Denn der Klosterberg, der erstmals 708/709 mit einem Sanktuarium zu Ehren des Heiligen Michael bebaut wurde und seither wie ein Fels in der Brandung der Flut standgehalten hatte, war verlandet. Vierzehn bis fünfzehn Meter beträgt der Tidenhub am Mont-Saint-Michel, der größte Europas.
Unesco-Weltkulturerbe und Teil des Jakobsweges in Frankreich
Um 965 gründeten die Benediktiner dort ihr Kloster, 1017 begann Abt Hildebert II. mit dem Bau der Anlage, die erst 1520 fertig gestellt wurde. Schneckenförmig, von steilen Treppen und Gängen durchzogen, windet sich das Kloster mit seinen langen Korridoren, kleinen Zellen, hölzernen Deckengewölben, Basiliken, Kapellen und Kreuzgängen den Berg empor, der spitze Turm der Abtei ist von Weitem zu sehen.Zu ihren Füßen schmiegt sich ein Dorf an den Hang der Insel, die ohne Bebauung 92 Meter hoch ist. Steine, Treppen, Mauern, Boden, Dächer, Ziegel: Alles ist mit einer Patina von Moos, Wind und Salz überwachsen und zu einem Teil der Landschaft geworden.
„Wichtig war der Weg. Man geht nicht zum Berg, man geht durch das Watt.“
Dietmar Feichtinger, Architekt
Seit 1979 zählen der Klosterberg und seine Bucht zum Unesco-Weltkulturerbe, als Teil des Welterbes Jakobsweg wird er in Frankreich seit 1998 geführt. Pro Jahr kommen mehr als dreieinhalb Millionen Touristen. Früher konnte es lebensgefährlich sein, nicht rechtzeitig den Rückweg aufs Festland anzutreten. „Mons Sancti Michaeli in periculo mari – Mont Saint Michel in den Gefahren des Meeres“ – nannten mittelalterliche Pilger den Berg.
1869 legte man den 1,8 Kilometer langen Straßendamm an, der den Mont für den Massentourismus bequem automobil befahrbar machte. Er trug dazu bei, dass die Bucht verlandete, weil er dem Wasser seinen Weg absperrte. Tausende Autos parkten auf dem trockenen Grund des Wattenmeers. Diese Plätze wurden nun in 2,5 Kilometer Entfernung auf das Festland verlegt. Von hier fahren jetzt Shuttlebusse zum Berg.
„Unser Ziel war, den Mont wieder zur Insel zu machen“, so Dietmar Feichtinger. „Ich wollte das Brückenthema vermeiden und den Steg so zart wie möglich quer zum Flusslauf stellen, damit es möglichst wenig Wasserwiderstand gibt. Wichtig war der Weg. Man geht nicht zum Berg, man geht durch das Watt.“ Das Planungsgebiet erstreckte sich bis zur Einmündung des etwa zwei Kilometer entfernten Flusses Couesnon, wo 2008 ein Gezeitendamm errichtet und so die Voraussetzung für den Steg geschaffen wurde. Er lässt bei Flut bis zu 1.700.000 Kubikmeter Meerwasser in das Flussbett strömen. Diese Wassermassen werden bei Ebbe mit viel Druck in die Bucht geleitet, um die Sedimente, die sich um den Klosterberg abgelagert haben, nach und nach mit der Strömung wieder wegzuspülen.“
„Unser Ziel war, den Mont wieder zur Insel zu machen“.
Dietmar Feichtinger, Architekt
Der Steg ist „wie ein Tausendfüßler“ auf viele extrem schlanke Stützen gesetzt, damit das Wasser ungehindert zwischen ihnen hindurch fließen kann. 134 Stahlstützen im Abstand von 12 Metern tragen den Steg. Ihr Durchmesser ist auf 25 cm minimiert, ihre Materialstärke beträgt zwischen 40 und 60 mm, gemeinsam bringen sie es auf ein Gewicht von 335 Tonnen. Jede Stütze ist zwischen 10 und 12 Meter lang und steckt in einer Pfahlgründung aus Beton, die 30 Meter tief in den felsigen Granit ragt, wo die Pfähle durch Reibung haften.
Der Verlauf des leichten Bogens, der sich mit einem Schwenk nach Osten tangential dem Mont-Saint-Michel annähert, ist einem möglichst geringen Wasserwiderstand geschuldet. Er ist optimal an die Strömung angepasst, zelebriert aber auch die Annäherung an den Berg auf einzigartige Weise. Der Steg vollzieht eine ganz flache Kurve. „Es war schwer zu bauen“, sagt Feichtinger. Alle Fertigteile verlaufen in leicht konischen Segmenten, der Querschnitt verändert sich im Verlauf des Weges.
Alle Versorgungsleitungen für die 44 Bewohner des Mont-Saint-Michel – Strom, Telefon, Frischwasser – werden in einem Hohlraum an der Unterseite mitgeführt. Die Straße, auf der nur Shuttles fahren, ist zwischen 4,50 und 6.50 Meter breit, alle 12 Meter gibt es eine hochelegante Dehnfuge für temperaturbedingte Materialschwankungen. Zwei Gehwege nehmen die Straße in die Zange: 4,50 Meter weit ragt der Weg im Westen über das Wattenmeer, 1,50 Meter sind es im Osten. Beide sind mit Eichenbohlen belegt, die Wind und Wetter mit einem silbrig grauen Schimmer überzogen haben. Sie adeln den Steg wieder zum Pilgerweg.
Auch der Handlauf der fast aufgelösten Brüstung aus Stahlseilen, die an eine Reling erinnert, ist aus Eichenholz. Er ist bequem und breit, sogar Gläser könnte man drauf stellen. Zwischen Fahrbahn und Fußweg verläuft eine lange Bank aus Betonfertigteilen. Ihr Querschnitt ist elegant, in seine Unterseite ist die Beleuchtung integriert. Der Beton speichert die Wärme, viele sitzen hier, essen, plaudern und schauen auf den Berg. Der Steg als Ort der Begegnung. Nachts wird die Bank zu einem abstrakten, schönen, schmalen Lichtstreifen. Er macht dem Mont keine Konkurrenz, doch bietet er erste Reihe fußfrei einen wunderschönen Blick auf den illuminierten Berg.
Mit jedem Schritt und zu jeder Uhrzeit eine neue Perspektive
Etwa 150 Meter vor dem Tor zum Mont landet der Steg auf einer Plattform, die sich leicht geneigt wie ein Teppich aus Beton zu seinen Füßen ausbreitet. Hier verteilen sich alle. Wenn die Flut kommt, versinkt dieser Bereich im Wasser und schneidet den Steg ab. Eine Reminiszenz an die Zeit, als es tödlich war, Ebbe und Flut nicht zu beachten. Steigt man hinauf zur Abtei und setzt sich in den Säulengang des Klosters, begegnet man den Vorfahren der standhaften Stützen des neuen Stegs. Er ist ein Teil der Aura dieses Ortes.
Dieser Artikel ist erstmals im wunderbaren Magazin QUER erschienen