Wer glaubt, zu Wien um 1900 sei alles gesagt, irrt gewaltig. Der Architekturforscher Otto Kapfinger tauchte mit seinem Team gleichermaßen in den Maschinenraum der Architektur dieser Epoche. Er legte den Fokus auf die Entdeckung von Eisenbeton, der diese Bauten erst möglich und Wien zur Metropole machte. Das gewichtige Werk „Anatomie einer Stadt“ bündelt das Wissen um die Anfänge dieser Technologie.
Adolf Loos und sein Haus am Michaelerplatz, der große Otto Wagner mit seiner enormen baukünstlerischen Spannweite, die von der genialen städtebaulichen Infrastruktur der Wiener Stadtbahn über die elaborierten Fassaden der Majolikahäuser, die Anstaltskirche am Steinhof bis hin zu den reduzierten Schreibtischen der Postsparkasse reicht, Josef Hoffman, Gustav Klimt, Kolo Moser und all ihre schillernden Zeitgenossen: Ihre Namen wurden längst zum Synonym der Ära von Wien um 1900, die droht, zu einem Label des Wien-Tourismus zu verkommen. Allerhöchste Zeit für einen neuen, frischen Blick!

Platz frei für die zweite Reihe, hinein in den Maschinenraum der Architektur, zu ihrer konstruktiven Essenz, der Tragstruktur einer jungen Technologie, die das Bauen dieser Epoche erst möglich machte: Eisenbeton. Es ist mehr als nur einem Zufall, es ist der Aufmerksamkeit des Stadtflaneurs, der Neugier und Hartnäckigkeit des Architekturforschers Otto Kapfinger zu danken, dass sich der Blick auf Wien um 1900 um eine neue Dimension erweitert. Das faszinierende Stahlbetongerippe eines gründerzeitlichen Eckhauses in der Mariahilferstraße, das während eines haarsträubend unsensiblen Geschäftsumbaus sichtbar zu Tage trat, war auch der Autorin nicht entgangen. Sie subsummierte es schlicht als Konstruktion. Für Otto Kapfinger wurde es gleichermaßen zum Erweckungserlebnis. Er erahnte die außerordentliche Bedeutung dieser Tragstruktur. „Ich habe das Thema nicht gesucht, es hat mich gefunden“, sagt er. Eines Sonntagnachmittags im Jahr 2016 fiel ihm plötzlich „diese viergeschossige, monolithische Ecke mit einer in Beton gegossenen Wendeltreppe“ auf und zu, darüber noch drei unversehrte Wohngeschosse.
Sensationelle Konstruktionen
„Plötzlich hat sich diese B-Liga der Architektur enthäutet und zeigt sich mir in einer Form, die ich sonst nur in Chicago erwartet hätte.“ Kapfinger hob die Pläne aus. Das Gebäude entpuppte sich als ehemaliges Textilhaus von Daniel Lessner. „Es hatte eine sensationelle Konstruktion mit über zwölf Meter frei gespannten Geschossen!“ So begannen ein umfangreiches Forschungsprojekt und eine Entdeckungsreise zu den wagemutigen Anfängen des Eisenbetonbaus, der heute Stahlbeton heißt und die Basis der Entwicklung jeder Großstadt bildet. Ohne Eisenbeton keine moderne Infrastruktur, keine großen Fertigungshallen für die Industrie, kein Tunnel, kein Hochhaus. Rund 160 Gebäudebegehungen und umfangreiche Recherchen in Magistratsabteilugen, Plankammern und Archiven mündeten in diesen famosen Katalog von außergewöhnlichem Umfang und Tiefgang. Felix Siegrist, Ursula Prokop, Gabriele Anderl, Adolph Stiller, Stephan Templ, Maria Welzig, Anna Wickenhauser und Markus Kristan unterstützen ihn bei Recherche und Quellenforschung, die Redaktion übernahmen Eva-Maria Orosz, Andreas Nierhaus und Irina Morzé.

Natürlich findet sich der initiale Fund darin mit einem Schnitt und Text zu Bautypus, Konstruktion und Hausgeschichte dokumentiert. Das Warenhaus D. Lessner zählte zu den Flaggschiffen der modernen Einkaufstempel in der Mariahilferstraße, einem anno dazumal bahbrechenden neuen Bautyp, der es auf einmal den Frauen ermöglichte, ohne Herrenbegleitung unterwegs zu sein. Bei Lessner gab es Stoffe, Teppiche, Damen- und Herrenbekleidung, ab 1888 produzierte er den „Modesalon“, eine eigene, illustrierte Zeitschrift. „Vom monumentalen Haupteingang betreten wir direkt den Zentralverkaufsraum im Parterre, der, in seiner Ausdehung überwältigend (…) das Einkaufen zum Vergnügen macht. Die grandios angeordnete Zentraltreppe stellt mit den Aufzügen die bequeme Kommunikation vom Souterrain bis in die oberen Stockwerke her“, schrieb das Wiener Tagblatt zur Eröffnung im März 1914. Alle neun Etagen dieses großflächigen Wohn- und Geschäftshauses waren aus Eisenbetonrahmen, -rippendecken und -pfeilern konstruiert. Seine mondänen, teils zwei- und dreigeschosshohen unteren Ebenen hatte man mit Glas-Eisen-Konstruktionen ausgefacht, in den oberen Wohnetagen aber verwendete man verputztes Mauerwerk. Heute wohnt man dort immer noch höchst komfortabel. Architekt Alois Augenfeld und Baumeister Samuel Bronner errichteten dieses Haus für David Lessner, die ausführende Baufirma war Gustav Orglmeister, Eisenbetonkonstruktion und Statik kamen von Rudolf Saliger.
„Atmende Baukörper“
Insgesamt 95 Bauten dokumentiert dieses epochale Katalogwerk, bei jedem sind Bauherr, Architekten, ausführende Baufirmen, sowie die Eisenkonstrukteure und Statiker angeführt. Allein die durchgehend wertschätzende Nennung dieser Disziplinen ist Alleinstellungsmerkmal und Gütesiegel. Je nach Bedeutung und Qualität fällt die Dokumentation mit Text, Fotos und Planmaterial mehr oder weniger umfassend aus, allein die unterschiedlichen Kategorien aber lassen schon ein breites Panorama von Elementen der Großstadt entstehen.

Weil man Straßen verbreitern musste, blieben mitunter nur noch sehr schmale Bauparzellen. Gerade einmal sieben Meter breit ist diejenige in der Plankengasse vier, dafür aber 33 Meter tief. Den Architekten Karl und Wilhelm Schön gelang es, dort eines der schönsten, kostruktiv und formal elegantesten Stadthäuser der Ära zu entwerfen. 18 Pfeiler aus Stampfbeton hat das Haus an seiner Außenseite, die nur dort mit Eisen armiert sind, wo es sich statisch nicht vermeiden lässt. Das massiv gemauerte Stiegenhaus liegt am dunkelsten Punkt in der Mitte und hat auch eine aussteifende Funktion für den ansonten feingliedrig dimensionierten Skelettbau. Die Statik führte die Baufirma G.A.Wayss & Co. aus, die hier auch ihr patentiertes Zellendeckensystem „mit ebener Untersicht“ einbaute. Friedrich Achleitner schwärmte von diesem Haus „zum silbernen Brunnen“: „Die bay-windows und der verglaste Erker drücken den Innenraum förmlich nach außen, sodass das konstruktive Gerüst aus Eisenbeton wie ein Korsett für das gefasste Volumen erscheint. Durch das Hochziehen der verglasten Sockelgeschosse am Eck um drei weitere Etagen und die leichte Differenzierung des Attikageschoßes entstand ein ,atmender Baukörper’ von vitaler Räumlichkeit.“
Vorwärts!
Damals nahmen auch die Massenmedien langsam Fahrt auf, von den 25 Tageszeitungen des Jahres 1910 kann man heute nur träumen, am Ostersonntag 1914 brachte es das Neue Wiener Tagblatt auf 256 Seiten, die über ein halbes Kilo wogen, nur 75 davon waren Kleinanzeigen. Druckereien und Verlage florierten, die modernste war die ikonische Druck- und Verlagsanstalt „Vorwärts“ an der Rechten Wienzeile. In dieser medialen und publizistischen Zentrale der Sozialdemokratie wurde gedruckt und Geschichte gemacht. Architektonisch ist das „Vorwärts“-Haus der Höhepunkt im Werk von Hubert und Franz Gessner, beide Wagner-Schüler. Konstruktiv ist es ein Mischbau – was dem höchst anspruchsvollen Raum- und Funktionsprogramm am besten entspricht. Hier befanden sich Druckerei, Redaktion, Setzerei und Auslieferung unter einem Dach. Die Außenmauern sind durchwegs aus Ziegeln, sämtliche Decken, Pfeilerstrukturen und Überlager aus Eisenbeton, das Dach eine leichte Stahlkonstruktion mit umlaufendem, rundgezogenen Fensterband um der Hof.

Hier oben wurden die Druckplatten hergestellt, während die schweren Maschinen unten standen und die schwersten im Souterrain. Diese hatten ihre eigenen Fundamente, Redaktion, Hand- und Maschinensetzereien. In seinen besten Zeiten produzierte dieses organisatorische und mediale Zentrum der Sozialdemokratie bis zu 200.000 Exemplare unterschiedlicher Medien. Ab 1910 erzeugte man hier die „Arbeiter und die Arbeiterinnen-Zeitung“, sechzig Arbeiterbüchereien mit 32.000 Benutzern und Benutzerinnen, die im Rekordjahr 1932 an die zwei Millionen Bücher und Zeitschriften entlehnten, führten zu einer hohen Auslastung. Über 700 Angestellte arbeiteten damals im „Vorwärts“-Verlag, der auch architektonisch und konstruktiv herausragend ist. Die Statik berechnete Fritz Mögle, ausgeführt wurde der Bau von den Firmen Karl Stigler, Christoph E. Jahn & August Rehak.
Kinos und Kabarets
Eine Entdeckung sind auch die vielen Kabarets, Varietés und vor allem auch die vielen Kinopaläste im damaligen Wien. In ein Lichtspieltheater zu gehen, war ein gesellschaftliches Ereignis. Konstruktiv führte die Notwendigkeit, prunkvolle Säle mit ansteigenden Sitzreihen und großen Spannweiten möglichst stützenfrei zu überwölben, zu faszinierenden Raumfolgen mit unterschiedlichen Höhen, Halbgeschossen und innovativen konstruktiven Lösungen. Der Nestroyhof von Architekt Oskar Marmorek, den Stadtbaumeister Carl Mayer ausgeführt hat, ist ein bekanntes Beispiel. An ihm zeigt sich deutlich, dass hinter einer opulent dekorierten Fassade im feinsten Jugendstil partiell auch modernste Bautechnologien stecken können, um besondere funktionelle Anforderungen zu meistern. So gibt es hier Monierflachdecken (mit Stuckdekor!) und ist die Saalüberdachung aus Eisen konstruiert. Ihre Statik berechnete R. Ph. Wagner.

Wie eine Röntgenaufnahme richtet diese „Anatomie einer Metropole“ den Blick auf den konstruktiven Kern und das Skelett des Gebauten. Besonders faszinierend ist die Vielfalt an Funktionen, die damals ganz selbstverständlich in einem Haus über- und nebeneinander in Räumen koexistierten, die ihrem Zweck vollkommen angemessen waren. Die Mischung aus Sondernutzung in den unteren Ebenen, Gewerbe und Büro in der Mitte, Wohnen oben, vielleicht noch Produktion und Handwerk im Hof gab und gibt es in unterschiedlichsten Variationen. Sie bewährte sich über den Wandel der Zeit hinweg. Fotos von Wolfgang Thaler und Bruno Klomfar zeigen, wie einige dieser Baute heute genutzt werden. Sie beweisen damit auch, wie resilient, multifuktional, großzügig und schön die Räume sind, die damals mit einer ganz neuen Technologie geschaffen wurden. Diesen Mut und diesen innovativen, kompetenten Umgang mit Eisenbeton würde man sich heute wieder wünschen. Dieses Buch hat absolut das Zeug zum Klassiker und Standardwerk. Man sollte sich schleunigst ein Exemplar sichern.