Der Weg von Anna Heringer zur Architektur begann bei der Entwicklungszuammenarbeit und führte zum Lehm. Dieses Material zählt zu den ältesten Baustoffen der Welt. Es ist auch den Ärmsten der Armen kostenlos zugänglich, inklusiv und konkurrenzlos nachhaltig. Außerdem lassen sich damit auf sehr haptische Art und Weise wunderbare Häuser gestalten. Porträt einer Architektin, die mit Lehm, viel Zeit, Liebe und Begeisterung für Gerechtigkeit und Schönheit kämpft.
Isabella Marboe
Die Körperhaltung aufrecht, die etwas widerborstigen Haare superkurz geschnitten und blaue Augen mit wachem Blick: Anna Heringer ist keine typische Architektin. Sie ist nicht blass, sondern braun gebrannt, trägt nicht schwarz und strahlt eine positive, weltumarmende Energie aus, die einfach ansteckend ist. Mit einem fröhlichen „Servus, Hallstatt!“ beginnt sie ihren Vortrag bei der Interventa Hallstatt, einem viertägigen Symposium über rurale Räume zwischen Tradition und Innovation. Lange, bevor dieser Ort zur Weltkulturerbestätte und Schauplatz einer koreanischen Soap-Opera wurde, maß sie dort im ersten Semester ihres Studiums ein altes Haus auf und entwickelte ein Projekt dafür. Sie ergänzte den revonierten Bestand um neue Wohnungen. Ein sehr nachhaltiger, respektvoller Ansatz. Ihre Betreuer aber vermittelten ihr deutliche Zweifel, ob sie für Architektur geeignet sei. Trotzdem präsentierte sie ihren Entwurf. Er kam gut an. „Das war für mich eine große Erleichterung. Es bestätigte mir, dass ich hier schon am richtigen Pfad bin.“ Die Fähigkeit, aller Widerstände zum Trotz bei sich zu bleiben, hat sie seither perfektioniert.
Verkehrte Verhältnisse
Heringer trägt ein vielfarbig geschecktes, gewebtes Oberteil mit bunten Fäden. Es stammt aus ländlichen Regionen im Norden von Bangladesh. Dort bekommen Frauen einmal im Jahr an ihrem höchsten religiösen Fest einen neuen Sari, Männer einen neuen Lungi. Sind diese abgetragen, werden sie zu Leintüchern verarbeitet. Bis zu sechs Lagen nähen die Frauen dafür mit Hand zusammen, mit der Zeit schält sich die oberste Schicht ab, die unteren kommen zum Vorschein. Heringer und die Meisterschneiderin Veronika Lena Lang hatten die Idee, aus diesen Stoffen, die so viel Geschichte in sich tragen, die Designlinie Dipdii Textiles zu entwickeln. Frauen aus Bangladesh nähen sie mit der Hand.
Das sichert ihnen ihr Einkommen, nährt ihr Selbstbewußtsein und verkehrt die Verhältnisse. Keine unterbezahlte fast fashion zu unmenschlichen Bedingungen, statt dessen authentisches Design, das seinen Wert stolz in einem beachtlichen Preis bemisst und die Lebensumstände vieler Familien nachhaltig verbessert. Genau darauf zielt auch Anna Heringers Architektur ab und beschreitet dabei ungewohnte Wege. Sie trägt immer Teile aus dieser Kollektion, die ausschließlich Unikate kennt.
Viele Mitglieder von Anna Heringers Familie arbeiten in der Entwicklungszusammenarbeit. Ein Onkel ist in Chile, ein anderer in Brasilien, beide brachten sehr viele Erfahrungbereichte und internationale Themen an den Küchentisch. Nach ihrer Matura wollte Heringer etwas anders sehen als das beschauliche Laufen an der bayrischen Grenze, wo sie aufgewachsen war. 1997 fuhr sie das erste Mal nach Rudrapur in Bangladesh, um dort bei der kleinen, engagierten NGO „Dipshika“ in der Entwicklungshilfe mit zu arbeiten. Damals steckte das Internet in den Babyschuhen, eMail gab es noch keine, auf ihren Brief nach Rudrapur bekam sie keine Antwort, sie flog trotzdem hin. Und dann stand tatsächlich jemand am Flughafen von Dhaka, um sie abzuholen.
Rudrapur liegt mitten am Land, die Häuser waren aus Lehm, es gab einen Pumpbrunnen, Wasserbüffel, Kühe und keinen Tag lang durchgehend Strom. „Es war ein Kulturschock und hat alle meine Vorurteile über den Haufen geworfen“, sagt Heringer. „Ich stellte mir einen häßlichen Ort vor, hatte kein schönes Keid und keinen Schmuck mit. Dann erfuhr ich, dass Armut nichts mit Abwesenheit von Schönheit zu tun hat.“ Im Gegenteil. Schönheit braucht Achtsamkeit, davon gab es in Rudrapur jede Menge. Die Menschen stellten damals fast alle Dinge selbst her, die sie zum Leben brauchten. Heringer war überwältigt von der Schönheit der schlichten, handgeformten Lehmhäuser und dem Alltagsdesign, das aus gutem Handwerk entsteht. „Es hat mich tief beeindruckt. Da gab es die unglaublichsten Messer, die schöner aussehen als der Eames-Vogel“, sagt sie. „Fast alles selbst herstellen zu können, ist ein großes Empowerment. Und diese Fähigkeit, aus bereits Gebrauchtem wieder etwas anderes zu machen. Und noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. Da stellt sich schon die Frage, wer ist jetzt der Entwickelte und wer nicht.“ Fiel der Strom aus, konnte man nicht einmal lesen. „Diese Abende waren wunderschön. Wir setzten uns zusammen, haben einander Kopf und Füße massiert, miteinander geplaudert und unglaublich viel gesungen.“
Nachhaltiger geht nicht
Nach einem Jahr flog sie zurück und begann ihr Architekturstudium an der Kunstuniversiät Linz. Dann kam der Lehmbau-Workshop mit Martin Rauch. Der ausgebildete Keramiker, Ofenbauer und Bildhauer aus Vorarlbert ist längst eine Koryphäe im Umgang mit dem archaischen Baustoff. Seiner jahrzehntelangen Praxis- und Forschungsarbeit ist zu verdanken, dass diese uralte Technik inzwischen auch in unseren Breiten wieder ernst genommen und anerkannt wird. „Als ich meine Hände im Lehm hatte, wußte ich genau: das ist mein Material, das lasse sich nicht mehr los“, sagt Heringer. „Entwicklungszusammenarbeit, soziale Gerechtigkeit, das Gestalterische und der Einklang mit der Natur: Der Lehm vereint alles.“ Lehm ist eines der ältesten Baumaterialien der Menschheit, überall vorhanden, es kostet nichts, kommt aus der Erde und geht wieder zur Erde zurück. Lehmziegel brauchen keine Maschinen, man kann sie mit Händen und Füßen herstellen. Nachhaltiger geht nicht.
Einmal im Jahr war sie in Rudrapur, längst beherrschte sie die Sprache und war so etwas wie ein Familienmitglied der Dorfgemeinschaft. Als sie mit Studienkolleg*innen aus Linz die Dörfer ausmaß, erfuhr sie, dass es eine Schule brauchte, Heringer wollte sie bauen. Und zwar aus den regionalen Baumaterialien Bambus und Lehm. „Das ging nur, weil mir die Leute vertrauten. Sie haben das nur mir zuliebe zugelassen“, sagt Heringer. „Seit der Kolonialzeit wurde ihnen von außen aufgepropft, dass Beton, Stahl, Zement und Ziegel mehr wert sei als das, was sie haben.“ Sie machte die Schule zum Thema ihrer Diplomarbeit, 2004 war der Entwurf fertig, ein Jahr sammelte sie Geld und trommelte ein Team zusammen, im Dezember 2005 begann die Gruppe gemeinsam mit dem Statikerike Roswag ein Gebäude aus Bambus und Lehm zu bauen. Es steht auf einem Fundament aus gebrannten Lehmziegeln, hat ein Geschoss mehr als die anderen Häuser im Dorf, natürliche Ventilation, bunte Sonnensegel, ein schönes Vordach auf einer kunstvoll gebündelten Bambuskonstruktion, das vor Wind, Regen und Hitze schützt. Stützenbündel aus Bambus tragen da Obergeschoss, in den dicken Lehmwänden gibt es Löcher, in denen die Kinder gern zwischen zwei Klassen liegen. „Es war eine wirkliche unplugged Baustelle“, sagt Heringer. „Wir haben diese Schule mit vier Akubohrern, der Kraft vieler Menschen und einiger Wasserbüffeln gebaut.“ Nach sechs Monaten Bauzeit war die METI handmade School im Mai 2006 fertig. Sie wurde mit dem renommierten Aga Khan Award ausgezeichnet und steht immer noch. Längst sind die Menschen in Rudrapur stolz drauf.
Spiritualität und Gemeinschaft
Seither hat Anna Heringer in vielen Ländern gebaut – das DESI-Zentrum in Rudrapur, drei von einem geflochtenen Bambusgeflecht eingehauste Jugendherbergen im chinesischen Baoxi, einen Kindergarten aus Holz, Gras, etwas Zement in Zimbabwe, aber auch Projekte in Europa: Das Gebursthaus im Garten des Frauenmuseums im Vorarlbergerischen Hittisau, dessen rund gewölbte, von roten Holzschindeln gedeckte Form an den Bauch einer Schwangeren erinnern. Innen vermittelt eine mit Lehm ausgekleidete Höhle Geborgenheit. Heringers erstes Gebäude in ihrer Heimat Deutschland war ein Altar für den Wormser Dom. Sie hatte 2018 gemeinsam mit Martin Rauch den Wettbewerb dafür gewonnen. Die beiden reagierten auf die barocke Pracht mit einem schlichten, bescheidenen Altar aus Lehm, den Menschen aus der Gemeinde selbst stampfen sollten. Was im wohlabenden Westen fehlt, sind nicht Geld und teure Materialien. Es ist Spiritualität und Gemeinschaft. Der Bauprozess war körperlich anstrengend und emotional befreiend.
„Überall, wo ich baue, erlebe ich dasselbe: Dass es glücklich macht, ein Ziel zu haben, das über das persönliche Vergnügen hinaus geht. Man muss sich anstrengen, seine eigenen Fähigkeiten vertrauen und diese Erfahrung mit anderen teilen.“ Derzeit setzt Anna Heringer für denselben Bauherrn – die Salesianer – ein Bildungscampus in Ghana um. Als europäische Frau, die mit Lehm bauen will, hat sie in einem Land mit kolonialer Vergangenheit gegen einige Widerstände anzukämpfen. Dazu kommen die unzähligen afrikanische Sprachen der Arbeiter, mit dem Baufortschritt aber kommt das Vertrauen. Und dem richtigen Partner vor Ort. Den hat Anna Heringer nun gefunden. „Der Prozess ist ganz entscheidend, sobald man ein Teil etwas Ganzen wird, geht die Sache gut.“ Die Klimaingenieure von transsolar berechneten genau, wo optimalerweise die Öffnungen im Gebäude liegen, wie groß sie sein müssen und wo es Solarenergie braucht. Gebaut wird nur mit Menschenkraft. Es ist nicht einfach, die lokale Bautraditionen in unterschiedlichen Ländern auch wirklich zu begreifen. „Jedes Projekt ist eine spezielle Lernerfahrung, die einen reifen lässt.“ Heringers Büro ist klein, sie setzt auf die richtigen Partner vor Ort und viel Zeit.
„Form follows function“, postulierte Mies van der Rohe und sein Regime in der Villa Tugendhat war so streng, dass es kein Bild an der Wand duldete. Die Bauherrenfamilie Tugendhat hatte ein halbes Vermögen in das Haus mit den maßgeschneiderten Möbeln und dem fortschrittlichen Heizsystem investiert, das zu einer Inkunabel der Moderne wurde. Der Ausblick allein sollte wirken, gerahmt von einem Fenster in der Position und Proportion, die Mies van der Rohe geplant hatte. So funktionierte Architektur jahrzehntelang und tut es immer noch. Mies van der Rohe verbaute Onyx, der so dünn geschliffen war, dass das Licht durchschimmert, als ob es Bernstein wäre. „Form follows vision“, lautete das Motto von Friedrich Kiesler, sein Material war die Utopie. Das Material von Anna Heringer ist Lehm, der fußt in der Erde und im Leben, ihre Botschaft ist klar. „Form follows love.“ Das ist eine kleine Revolution in einer harten, männerdominierten Branche mit einem Hang zum Kontrollzwang. Sich mit dieser Haltung – noch dazu als Frau – durchzusetzten ist schwierig. „Authentizität hilft“, sagt Anna Heringer und lächelt dabei so strahlend, dass man weiß: Sie setzt sich durch.