Jeder kennt ihn, keiner spricht ihn an und die Politik schweigt sich aus. Leerstand ist ein großes Tabu in der Wiener Stadtplanung. Unterschiedliche Architekturinstitutionen stoßen nun gemeinsam einen öffentlichen Diskurs darüber an.
Isabella Marboe
Verwaiste Lokale, zugeklebte Schaufenster, ausgestorbene Innenstadt- und Wohnhochhäuser, deren Fenster jeden Abend nachtschwarz bleiben: man muss nicht besonders aufmerksam sein, um den Leerstand in Wien zu bemerken. Das Geschäftssterben grassiert schon länger, inzwischen hat es bessere Lagen erreicht. Der Leerstand ist kaum mehr zu übersehen und doch eines der größten Tabus. In Wien gibt es dazu keine offiziellen Zahlen, inoffizielle Schätzungen kommen je nach Methodik zu unterschiedlichen Resultaten. Leerstand brach liegen zu lassen, ist jedenfalls eine ungeheure Vergeudung an Raumressourcen, für die es von unterschiedlichsten Nutzer-und Nutzerinnengruppen großen Bedarf gäbe.
Die Allianz für Substanz, das Architekturzentrum Wien, die IG Architektur, IG Kultur Wien, Kammer der Ziviltechniker:innen für Wien und die ÖGFA (österreichische Gesellschaft für Architektur) adressieren nun gemeinsam das Thema. „Leerstand nutzen!“ lautet ihre Forderung an die Politik, was natürlich voraussetzt, dass man weiß, wovon man spricht. Und zwar quantitativ und qualitativ. Im Gegensatz zur Steiermark, Salzburg, Tirol und Vorarlberg gibt es in Wien keinen Konsens über die Definition des Begriffs „Leerstand.“ Der Handlungsbedarf ist hoch, am 15. Oktober luden die sechs Initiativen zur Pressekonferenz in die ig architektur, seither fanden in der Alten WU je ein Panel zum Leerstand beim Wohnen, den Leerstand in der Erdgeschosszone und eines zum oft ignorierten Leerstand im Gewerbebau. Letzterer hat für gemischte Nutzungen und eine inklusive, produktive Stadt der kurzen Wege besonders großes Potential.
Beispiel aus Berlin
Andernorts begegnet man dem Thema offensiver. Maik Novotny, Vorstand der ögfa, verwies zum Einstig auf das Haus der Statistik in Berlin. Seit 2008 stand dieser typische Systembau aus den 1970er Jahren mit seinen 50.000 m² Büronutzfläche in zentraler Lage am Alexanderplatz leer. Kurz vor dem Verkauf und drohenden Abriss brachten die Allianz bedrohter Atelierhäuser (AbBA) und eine Gruppe engatierter Künstler und Künstlerinnen ein Bauschild an der sanierungsbedürftigen Fassade an. Darauf war zu lesen: „Hier enstehen für Berlin: Räume für Kultur, Bildung und Soziales.“ Damit war die Diskussion eröffnet, die Initiative für eine intelligente Nutzung des Bestands fand Unterstützung beim Bezirk und der Architekenkammer, das Haus der Statistik wurde zum Modellprojekt einer vorbildlichen Leerstandsaktivierung, es gab ein Leitbild für Pioniernutzungen, Sanierung und nachhaltige, langfristige Weiternutzung. Man gründete eine Genossenschaft für Stadtentwicklung, schloss einen Kooperationsvertrag ab und schrieb 2022 einen geladenen Wettbewerb für das „Rathaus der Zukunft“ aus. Heute wird das Haus gemischt genutzt und trägt stark zur Quartiersbildung bei.
Beim Thema Leerstand treffen viele unterschiedliche Rollen, Ausgangspositionen und Interessenslagen aufeinander. Am 19. September fand dazu in der ig architektur ein sogenanntes Expertinnengespräch statt. Das ist ein Format, bei dem unterschiedliche Akteure und Akteurinnen aus Stadtverwaltung, Forschung, Vertreter der (Immobilien)Wirtschaft, Politik und Architektenkammer in einem geschützten Rahmen aufeinandertreffen, um Meinungen und Standpunkte auszutauschen. Dabei wurde ein konsensuales Positionspapier mit Forderungen erarbeitet, denen alle zustimmen können. Dabei teilte man den Leerstand in drei Kategorien: Wohnbau, Erdgeschosszonen und Gewerbeflächen.
Unterschiedliche Zahlen
Wien wächst kontinuierlich einer Zahl von zwei Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen entgegen, der Nutzungsdruck ist hoch. Obwohl Bau- und Immobilienwirtschaft laufend neue Wohnungen produzieren, bleiben sowohl der Bedarf als auch die Mieten hoch. Leerstand zu mobilisieren, könnte eine deutliche Entspannung bringen und vor allem dort Abhilfe schaffen, wo es einen eklatanten Mangel gibt: leistbarem Wohnraum für ärmere Bevölkerungsschichten. An die 12.000 obdachlose Menschen gibt es in Wien, die Zahl Armutsgefährdeter steigt, sie liegt derzeit bei etwa 400.000. Zwischen 2016 und 2020 stieg die Zahl neu errichteter Wohnungen von 7.000 auf knapp über 15.000, auf die Mieten wirkte sich das nicht merkbar aus, sie stiegen weiter. Sie lagen zwar lange weit unter Pariser oder Londoner Niveau, zogen dafür aber proportional stärker nach. Während sich Einkommen in den letzten Jahren um 20% erhöhten, legten die Mieten um 50%, die Preise für Eigentumswohnungen sogar um 80% zu.
Wohnen hat sich vom menschlichen Grundbedürfnis immer mehr zur lukrativen Wertanlage entwickelt. Das wirkt sich auf den Leerstand aus, für den es zwar keine offiziellen Zahlen, aber doch Daten gibt, die eine Annäherung zulassen. Die Stadt schätzte die Zahl der leerstehenden Wohnungen 2021 auf etwa 3.500, also 3,5%. Die Wiener Grünen bezweifelten das, sie gingen von etwa 8-9% aus. Eine Studie der Arbeiterkammer aus dem Jahr 2022 kommt zu dem Schluss, dass von über 57.000 Wohnungen, die zwischen 2018 und 2021 errichtet wurden, an die 15 bis 20% leer stehen. Das entspricht rund 10.000 Wohnungen. Auch die jüngste Registerzählung der Statistik Austria wies von etwa 100.000 Wohungen an die 10% ohne Haupt- und Nebenwohnsitz aus.
Leerstand erhöht die Neubautätigkeit, Bodenversiegelung, Miet- und Bodenpreise, auch der CO2 Ausstoß steigt. Ihn brach liegen zu lassen, ist also aus Perspektive ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit mehrfache Ressourcenverschwendung. Die Bauwirtschaft allerdings profitiert vom Status quo, die Gemeinde Wien geht den Weg des geringsten Widerstands und hält sich bedeckt.
„Konsensual sind die alle einige, dass der Begriff Leerstand definiert werden muss“, betont Architektin Ulrike Schartner, Vorsitzende des Ausschusses Leistbares Wohnbau und Leistbarkeit der Kammer der Ziviltechniker:innen Wien, Niederösterreich und Burgenland. „Ohne Begriffsdefinition lässt sich nicht erfassen, wie viel Leerstand es überhaupt gibt und ob eine Immobilie zweckentfremdet genutzt wird.“
In Tirol gibt es das schon längst. Dort gilt alles, was über einen durchgehenden Zeitraum von sechs Monaten nicht als Wohnsitz verwendet wurde, als Leerstand und ist meldepflichtig. In Salzburg wird der Leerstand über den Stromverbrauch erhoben. Kommunalabgaben sind für Zweitwohnsitze und Wohnungen, bei denen nach den Daten des Melderegisters an mehr als 26 Kalenderwochen kein Wohnsitz gemeldet ist, fällig. „Das erhöht auch das Bewusstsein der Bevölkerung, dass Leerstand viel Infrastruktur kostet. In Wien hast das bis dato keine Konsequenzen, es müsste aber sanktioniert werden“, so Schartner. Auf eine Leerstandsabgabe konnte sich die Runde beim Expertinnengespräch allerdings nicht konsensual einigen. Es gibt noch einiges zu tun.