Der Wolkenturm von the nextENTERprise architects ist ein geglücktes Experiment aus Klang und Raum. Seit 2007 gibt es das Sommerfestival klassischer Musik in Schloss Grafenegg. Der Ort ist magisch, die Lage nicht die beste. Vor dem Eröffnungskonzert im Wolkenturm von the nextENTERprise architects ging ein heftiges Gewitter nieder – der Abend wurde ein Riesenerfolg. Das Festival auch.
Die Idee war so verwegen wie ambitioniert: Im Park von Schloss Grafenegg sollte ein Freiluftfestival für klassische Orchestermusik aus dem Boden gestampft werden. Und zwar auf dem Niveau der ehrwürdigen Proms in London, Tanglewood in Massachusetts, dem Schleswig-Holstein Musik Festival. So etwas fehlte in Niederösterreich, der damalige Landeshauptmann Erwin Pröll war sofort bereit, es großzügig zu subventionieren. Der Ort war vielversprechend. Die Architekten Leopold und Hugo Ernst hatten das Schloss im 19. Jhdt. in ein Juwel des romantischen Historismus verwandelt. Damals wurde auch 32 ha große Park mit Baumpflanzungen, geschwungenen Wegen und Hügeln zum englischen Landschaftsgarten.
Doch Grafenegg war in der klassischen Musikwelt ein weißer Fleck, die öffentliche Verkehrsanbindung lausig. Per Auto braucht man von Wien etwa 50 Minuten, von St. Pölten eine halbe Stunde, von Krems 15 Minuten. „Anfangs war die Skepsis groß. Da will jemand im Nirgendwo ein Festival hochziehen“, sagt Philipp Stein, seit 2018 Geschäftsführer. Allerdings: Das Land war bereit, zu investieren – der große Pianist Rudolf Buchbinder war bereit, die künstlerische Leitung zu übernehmen, das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich war bereit, seine Zelte dort aufzuschlagen.
Was noch fehlte: eine Freiluftbühne. 2005 wurden einige handverlesene Architekturbüros zum Wettbewerb geladen. Das Projekt von the nextENTERprise Architects (tnE) – Marie Therese Harnoncourt-Fuchs und Ernst J. Fuchs – gewann. „Ausgeschrieben war eine Freiluftbühne für klassische Sommerkonzerte ohne elektrikakustische Verstärkung. Wir aber entwarfen etwas, das vordergründig nicht aussieht wie eine Bühne“, erklärt Fuchs. „Der Park ist 365 Tage im Jahr öffentlich zugänglich, die Konzertsaison im Sommer ist kurz. Uns interessierte daher auch, was die restliche Zeit passiert“, ergänzt Harnoncourt. “Der historische Landschaftsgarten besteht aus Hügeln, Teichen, Ruinen. Unser Bauwerk sollte zum Verweilen einladen und sich verwandeln– je nachdem, von wo aus man es betrachtet.“
Als Fuchs und Harnoncourt im März 2005 nach Grafenegg fuhren, schneite es. „Es war ein tolles Erlebnis. Der Park ist topografisch angelegt und wir rodelten den Napoleonhügel hinunter. Das war für unsere Vision prägend.“ tnE entwickelten die Geometrie ihres Bühnenbauwerks aus den Landschaftselementen. Sie vermaßen alle Bäume, Hügel, Höhenschichtlinien, Teiche, hielten Blickachsen und Wege fest. Unweit vom Wiener Tor gab es auf der Wiese neben dem Schloss zwei große Mulden, die ineinander übergingen. „Wir mussten nur etwas tiefer graben und das ausgehobene Volumen wie einen Massentausch auftürmen“, erklärt Harnoncourt. Reinste Tiefstapelei. Denn die Mulde, in der sich die Sitzstufen des Freiluftauditoriums von der Bühne aus kreisförmig aufwärts entwickeln, hält mit dem Volumen des Wolkenturms eine subtile Balance. Seine Basis bildet einen Hohlraum. Sie erzeugt mit Hilfe von Akustikpaneelen eine Konzertsaalakustik für die Bühne. Ihre Rückwand reflektiert die Schallenergie so, dass sich der Klang trichterförmig ins Auditorium ausbreitet. „Man hört nur, was man sieht.“ Wie im griechischen Amphitheater. Das akustische Fine-Tuning der Freiluftspielstätte stammt von Müller-BBM GmbH.
Als begeh- und bespielbare Skulptur ist der Wolkenturm heute ein Teil des Parks. 90 Tonnen Stahl stecken in der Konstruktion seiner expressiven Gestalt, die sich 23 Meter hoch über der Bühne auftürmt. „Die Baustelle war intensiv. Nichts war alltäglich. So etwas baut man nur einmal“, gestehen tnE. Sowohl die Architekten, als auch die Tragwerksplaner vom Büro Bergmeister Ingenieure hatten ihre Feuerprobe beim Bau des hochgestemmten Beckens aus Sichtbeton im Freibad in Kaltern bestanden. „Betonieren ist wie kochen: die Rezeptur, die Konsistenz, der Zeitpunkt der Einbringung, die Rüttlung – alles spielt zusammen,“ erklärt Fuchs. Eine der schlanken Betonwände musste mehrmals betoniert werden. Bis zuletzt war unklar, ob die MusikerInnen das Bauwerk auch akzeptieren. „Das Einspielen mit den Tonkünstlern hat das Projekt akustisch und atmosphärisch bestätigt – sie haben es freigeben.“
Leichtes Prickeln und Elektrizität in der Luft
Fünf Stunden vor dem Eröffnungskonzert am 22. Juni 2007 entlud sich ein heftiges Sommergewitter. „Die Sessel standen 30 cm im Wasser, alles war verschlammt“, weiß Ernst Süss aus Erzählungen. „Alle umliegenden Feuerwehren waren im Großeinsatz – vier Stunden später war es sauber.“ Seit zwölf Jahren ist Süss technischer Leiter in Grafenegg. Das leichte Prickeln, ob das Wetter halten wird, blieb. Vor jedem Konzert liegt Elektrizität in der Luft. Der Wolkenturm reagiert auf die Witterung. „Er ist etwas Lebendiges. Man muss alles so einfach wie möglich halten“, sagt Süss. Nur keine Chemie.
Die Dämpfmatten der Akustikelemente müssen bald getauscht werden, wie ein leichter Flaum überziehen Moose die Stirnflächen am Beton. Blasse rostrote Streifen deuten darauf hin, dass die Betondeckung hier und dort schon ausgedünnt ist. „Glas, Stahl, Beton: Bei diesem Bauwerk gibt es viele Verschneidungen und Wartungsfugen, in die Wasser eindringen kann“, sagt Süss. „Wasser und Elektronik verträgt sich schlecht.“ Raben picken gern die Dichtungsmasse aus den Fugen. „Wir haben Vogelnetze aufgezogen, sonst gibt es bald ein Problem.“ 2013 landete eine Technikkabine per Kran über dem Durchgang zur Publikums-Tribüne, durch den auch Nebengeräusche eindrangen. Man justierte nach: Vorhänge, betongrau, in acht Lagen doppelt genäht. Fast 15 Jahre ist der Wolkenturm ständig ungeschützt Wind und Wetter ausgesetzt – bestens gepflegt, naht die Zeit einer ersten Sanierung. Auch das wird spannend.
„Die ersten Proben waren sehr schön. Wir waren alle neugierig auf die Naturakustik“, sagt Barbara Ritter, Solo-Oboistin der Tonkünstler. Sie vermutet sogar, diese könne die Hörgewohnheiten des Publikums schulen. „Es ist als Musikerin sehr befriedigend, dort zu spielen.“ Das Wetter aber ein ständiges Risiko. Bei einer Sommernachtsgala mit TV-Übertragung hielten die MusikerInnen bis 13 Grad durch. „Wird es kälter als 18 Grad, hat man klamme Finger, Holz- und Blechinstrumente leiden.“ Worunter KünstlerInnen leiden: die „üblichen Details.“ Zu wenig Toiletten bei den Garderoben, heiße Aufenthaltsräume. An lauen Sommerabenden aber ist Grafenegg unschlagbar. „Wenn die Vögel mitzwitschern, ist das ein atmosphärisches Gesamterlebnis.“
Toni Mörwald, Herr über die Gastronomie in Grafenegg, musste anfangs vernachlässigte Überlegungen für eine Pausenbewirtung kompensieren. Provisorische Stehtische wehte der Wind um, weil Glas zu laut war, sattelte er auf Plastik um, dann musste das Catering als akustischer Störfaktor den Standort hinter dem Auditorium aufgeben. Es stellte grüne Container auf der Wiese seitlich es Durchgangs auf.
“Ob Streicher, Bläser, Sänger – man hört alle. Die Akustik ist wundervoll“, freut sich Rudolf Buchbinder. „Zubin Mehta, Renée Fleming – viele sagten mir, es sei die beste Freiluftbühne der Welt.“ Auch Einheimische mögen den Wolkenturm. Franz Ehmoser wohnt 15 Autominuten entfernt in Königsbrunn am Wagram. Seit der Sommernachtsgala 2008 – „die war so richtig romantisch“ – sind er und seine Frau fixe Abonnenten. „Bei gutem Wetter ist das Ambiente mit dem Wolkenturm und der Silhouette vom Schloss durch nichts zu ersetzen.“
Vom Winde verweht
2007 startete das Festival mit der ersten Sommernachtsgala, 12 Konzerten, drei Wochen Spielzeit, 14.700 BesucherInnen. „Da wussten alle, dass es nicht nur ein komisches Gespinst war“, sagt Philipp Stein. Bald waren die 1.700 Sitzplätze des Wolkenturms und die 300 Rasenplätze nicht mehr genug. Man erweiterte die Sitzmöglichkeiten auf dem künstlich aufgeschütteten Hügel um weitere 100 Rasenplätze,
2015 wurde die Freiluftbar „Wolke 7“ fertig. Auch sie ist von tnE architects geplant. Ihre Betondecke wirkt wie ein vom Wind verwehtes Blatt, das sacht auf den schwarzen Stahlstützen gelandet ist. Seine Geometrie folgt der Biegelinie des Kräfteverlaufs – daher ist es so hauchdünn. 25 Meter Tresen, eine Kühllade und mehreren Kassenstationen hat das neunköpfige Serviceteam hier zur Verfügung. Weil zwanzig Minuten für hunderte Menschen, die bestellen, zahlen und konsumieren, immer noch ein Himmelfahrtskommando ist, bietet Mörwald nun Pausenpakete an. Grafenegg optimiert sich ständig. Matinee, Picknick, Spaziergang, Dinner, Konzert, ein, zwei Gläschen Wein: Programm für einen Tag.
Im Rekordjahr 2018 kamen 52.800 Menschen, heute ist Grafenegg eine fixe Größe in der Musikwelt. KünstlerInnen lieben es. „Es ist sehr, sehr angenehm, auf dieser Bühne zu spielen. Das Publikum hört jedes Pianissimo bis hinauf, unser größter Feind ist der Wind“, sagt Buchbinder. Einziger Wermutstropfen: „Der Applaus klingt sehr schütter.“ Der Preis der guten Akustik.
Dieser Text ist erstmals im morgen 02/2021 erschienen
https://www.morgen.at/2021-03-sommerfrische/himmelfahrtskommando