Margherita Spiluttini erfand das Genre der Architekturfotografie neu. Die Größten der Branche vertrauten ihrem einzigartigen Blick, ihr Interesse aber reichte weit über perfekte Fotos großer Architektur hinaus. Spiluttini reflektierte ihre Rolle als Frau und Mutter, dokumentierte technische Infrastruktur, davon gezeichnete Landschaften und Bauten kurz vor Abriss oder Umbau. Ihre Fotos sind oft das einzige, was von ihnen blieb. Am 3. März 2023 starb die Grande Dame der Architekturfotografie. Anlass für eine tiefe Verbeugung und Erinnerung an einen Besuch.
Auf eine gewisse Weise ist Margherita Spiluttini unsterblich. Ihr Blick auf die gebaute Welt prägte die Rezeption von Architektur und deren publizierte Wahrnehmung. Vieles wird immer so erinnert werden, wie sie es fotografierte. Spiluttinit tat weit mehr, als einfach Bauten oder Objekte abzubilden. Sie dokumentierte sie auch in einem bestimmten Zustand zu einer bestimmte Zeit, machte Momentaufnahmen verlassener Gebäude kurz vor deren Abriss oder Umbau. So hielt sie beispielsweise einen repräsentativen Raum im Messepalast fest, bevor er Museumsquartier wurde, fotografierte das Schwimmbad im Südbahnhotel am Semmering, als sein Verfallszustand besonders farbintensiv war und machte in ihrer Serie „Nach der Natur. Konstruktionen der Landschaft“ die massiven Eingriffe bewußt, die technische Infrastruktur bedingt. Natur erschließen zu wollen, ist oft eine bautechnische Kraftanstrengung, die enorme Erdbewegungen und Massen an Stahl- und Beton erfordert.

Vieles, was Margherita Spiluttini abgelichtet hat, ist längst verschwunden. Seine Spur in der Welt aber bleibt in ihren Bildern. Sie halten das Flüchtige fest, die Ernsthaftigkeit ihres Blicks gibt ihnen Tiefe, es kann sein, dass sie Gebautes überdauern. Fotografien sind reproduzierbar, das gibt ihnen eine gewisse Resilienz. Sie sind wie ein Gedächtnis. Meine Begegnung mit der großen Fotografin ist schon lange her. Ihre Lebendigkeit hat mich beeindruckt und berührt, sie war eine sehr präsente Person. Deshalb bleibt dieser Text zeitlich in der Gegenwart, in der er verfasst wurde.
Umgeben von Büchern, lebt Margherita Spiluttini im Dachgeschoß eines alten Pawlatschenhauses in der Wiener Innenstadt. Die Holzträme sind blau gestrichen, die Wände weiß, in eine Mauer des hellen, freundlichen Wohnzimmers ist ein liegendes, ovales Fenster eingesetzt. Eine kleine barocke Reminiszenz an die nahe Jesuitenkirche. Ihr Dach ist vom Balkon aus gut zu sehen, ihrer Scheinkuppel hat sie mit einem Foto ein bleibendes Denkmal gesetzt: Sie machte es auf der einzig weißen Kachel im Fußboden stehend. Dann erst nämlich wirkt die Scheinkuppel perfekt und entspricht ihrer eigentlichen Wirklichkeit.

Spiluttini hat einen schwarzen Pullover an, aufgelockert mit bunten Quadraten. Weil Rita Newman fotografieren wird, legt sie einen Lippenstift an. „Jede Szene hat ihre Regeln. Angela Merkel wird eher akzeptiert, wenn sie nicht geschminkt ist.“ Spiluttini trägt ihre roten Lippen mit Selbstverständlichkeit. Zu Beginn ihrer Karriere hat sie ihre Rolle als Frau bewußt thematisiert. Die Christine König Galerie zeigte frühe Arbeiten: Auf fünf mal fünf Fotos hielt sie da in einer Serie fest, wie sie ihre Küche aufräumte. Ein fliegender Schatten mit Schürze und Zopf zwischen Stapeln von Geschirr, bis alle Arbeitsflächen leer und sauber sind. 3. September 1980, 12:45 bis 13:57 ist in Bleistift am Rand notiert. Recht rasch für eine Küche. Hausarbeit muss Kunst werden, wenn die Künstlerin Hausfrau sein muss und Kunst und Leben und Gesellschaft ohnehin nicht zu trennen sind. In einer anderen Serie tauscht sie mit Tochter Ina die Rolle und damit typische Utensilien wie Stöckelschuhe, Zigarette, schwarzes Kleid gegen Judoanzug und Stofftier aus. Die Uhr im Hintergrund dokumentiert die Zeit, die dabei vergeht.

Überall stehen Blumen, die Atmosphäre ist bunt und fröhlich. „Die sind noch von meinem Geburtstag da.“ Den feierte die Grande Dame der Architekturfotografie am 16. Oktober, neunzehn Tage vor unserem Gespräch. Samtpfotig streift Kater Rudi zwischen den Sesseln umher, sein Bruder Bruno hält lieber Abstand. Die Blumen wirken immer noch frisch, sie lassen auf einen langen Strom an Gratulanten und Gratulantinnen schließen. Das Datum könne man ruhig schreiben, wir verzichten auf den Jahrgang, der Geburtstag war ein runder, man sieht ihn ihr nicht an und Blumen dürfte es im Lauf des Tages noch einmal regnen: Am frühen Abend wird Spiluttini ins Festspielhaus St. Pölten aufbrechen, um den Würdigungspreis des Landes Niederösterreich für Medienkunst (Künstlerische Fotografie) entgegen zu nehmen. Ob sie das, nachdem sie 2016 den österreichischen Staatspreis bekam, überhaupt noch freut? „Natürlich!“ Außerdem: „Die Kunst im öffentlichen Raum in Niederösterreich ist bahnbrechend. Ich habe damals für die ersten Bände alle Fotos gemacht. Das ist keine Selbstverständlichkeit, dass eine Fotografin mit allen Aufnahmen beauftragt wird. Sie legten aber Wert auf eine einheitliche Bildsprache.“ Auch historische Architektur aus dem Industrieviertel und viele zeitgenössische Bauten wurden von ihr dokumentiert.



© Margherita Spiluttini, Christine König Galerie
Die Beziehung zwischen Margherita Spiluttini und der Fotografie ist lang, vielschichtig und intensiv. „Interessant ist das, was man nicht sieht: ob es kalt oder warm ist, wonach es riecht. Das alles kann man sich zu einem Bild dazu vorstellen“, sagt Spiluttini. Ihre Aufnahme des Hanghauses in Weerberg-Innerst in Tirol, das die Architektin Margarethe Heubacher-Sentobe für den Komponisten Thomas Larcher und seine zwei Klaviere so stimmig wie gekonnt auf ein extrem steiles Grundstück stellte, entstand neben dem Misthaufen des benachbarten Bauernhofes. Außerdem war es an diesem Tag extrem neblig. „In den Alpen gibt es oft Nebel. Das wollte ich zeigen.“ Als sie die Therme in Vals von Peter Zumthor fotografierte, blieben die nassen Fußstapfen der Badenden am Boden sichtbar. Menschen selbst findet man in ihren Architekuraufnahmen selten. Sie lenken zu sehr vom Wesentlichen ab: dem Bau, seiner Materialität, den Proportionen. „Mein Argument ist immer: Architektur ist von Menschen gemacht. Das genügt.
Mit neun Jahren bekam sie von ihrer Mutter ihre erste Kamera. „Es war eine Freude. Man konnte sich ganz anders mit der Realität auseinandersetzen: Denn dan musste sich immer nur auf einen Ausschnitt konzentrieren. Das war viel leichter, als etwas im Gesamten festzuhalten. Man konnte sich mit einem Detail intensiv beschäftigen. Das Medium hat seine eigenen Gesetze.“
Spiluttini ist in Schwarzach im Pongau geboren, wo es eine große Klinik gab, die ihr Vater Alois – Baumeister in dritter Generation – errichtet hatte. Dadurch begann sie, sich für Medizin zu interessieren – und für alles Gebaute. „Mein Vater hat am Kraftwerk Kaprun mitgearbeitet. Er hatte eine riesige Technik-Euphorie und mochte es, wenn ich ihn begleite. Ich habe ihn oft vollkommen entzückt vor technischen Bauwerken erlebt.“ Diese Erfahrung wird zu faszinierenden Serien führen, in denen sie mit dem ihr eigenen, präzisen Blick technische Bauten wie Brückenkonstruktionen, Kraftwerke, Autobahnen oder Bahngeleise als Implantate in der Landschaft dokumentierte. Ihre Berufslaufbahn begann als medizinisch-technische Assistentin. „Es gab bei der Röntgenfotografie keine formalen Kriterien, aber man konnte in etwas eintauchen, das man normalerweise nicht sieht.“ Mit der Geburt ihrer Tochter Ina hörte sie 1972 damit auf. „Damals galt man als schlechte Mutter, wenn man sein Kind in den Kindergarten steckte.“ Ihrer grundsätzlichen Haltung und Sichtweise blieb sie treu: etwas mit einer dem Motiv und Anlass angemessenen Kamera fest zu halten, um eine dahinter liegende Realität auf zu zeigen. „Als ich meine Ausbildung machte, war so eine anekdotische Magnum Fotografie modern, das hat mich nie interessiert.“

Ihr Ehemann, der Architekt Adolf Krischanitz gründete mit Andrea Hareiter und Otto Kapfinger die experimentelle Formation Missing Link, deren Aktionen sie dokumentierte. 1976/77 begegneten sie Friedrich Achleitner: Von da an entwickelte sie alle Film-Negative und Kontaktstreifen der Fotos, die er von seinen Exkursionen quer durch Österreich mitbrachte. So etwas schult den Blick. Spiluttini besuchte die Kurse der Camera Austria Graz, unter anderem ein Seminar der Fotokünstlerin Mary Ellen Mark und bildete sich autodidaktisch weiter. 1981 machte sie sich als Fotografin selbständig. Sie begann, für die ÖGFA (östereichische Gesellschaft für Architetur) Baulücken, Abbrüche und mehr zu dokumentieren. Dort lernte sie auch die jungen Schweizer Architekten Herzog & deMeuron kennen. Architekturaufträge häuften sich, sie eignete sich die hohe Kunst der Großformatkamera an. Eine aufwändige Technik, die eines Stativs, langer Belichtungszeiten, großer Präzision und viel Geduld bedarf. Sie zwingt die Fotografin für jede Aufnahme unter die absolute Dunkelheit eines schwarzen Vorhangs, belohnt dafür aber mit einer großen Tiefenschärfe und ermöglicht es, stürzende Linien komplett zu entzerren. Ein Qualitätsmerkmal für professionelle Architekturfotografie, das auch dem strengen, fast kanonischen Ethos der Moderne entspricht. „Jedes Bild, das man da aufnimmt, steht auf dem Kopf und ist seitenverkehrt. Ich habe eine ungeheure Intensität entwickelt, das beim Sehen zu korrigieren.“ Ihre Bilder sind klar, schärfen den Blick und kommen der Realität sehr nahe. Sie vermitteln den Kontext, die Proportion, Oberflächen, Materialität, Farbigkeit und mehr. „Meine Faulheit hat mir geholfen, die Dinge zu vereinfachen“, bemerkt sie trocken. „Ich hatte keine Doktrin, aber ich wollte nur mit Naturlicht fotografieren. Scheinwerfer wären mir viel zu aufwändig gewesen.“ Ihre Aufnahmen gewinnen mit dem zeitlichen Abstand. Sie erzählen auch von der Gesellschaft, die eine bestimmte Architektur hervorbrachte. Einige haben die Objekte, die sie dokumentieren, längst überlebt. 1987 fotografierte Spiluttini für Herzog & deMeuron deren Ricola-Lagerhaus – und lichtete in Folge fast alle ihrer weiteren Bauten ab. „Ich war ja auch perfektionistisch und habe die stürzenden Linien gerade gestellt.“ Ihr internationaler Durchbruch.

„Ich möchte eine dritte Referenz andeuten, mit der sich Spiluttinis Opus charakterisieren ließe. Es gibt im österreichischen Fundus kultureller Utopien einen von Robert Musil geprägten Topos – das ,Institut für Genauigkeit und Seele‘: also die produktive Verbindung tiefer Gegensätze: von Ratio und Emotio, von Sachlichkeit und Poesie, von Abstraktion und Einfühung – um solcherart zu einer tiefgründiger/höheren Erfahrung und Handhabung von Wirklichkeit zu gelangen“, bemerkte Otto Kapfinger in seiner Laudatio zur Verleihung des Österreichischen Staatspreises. Spiluttini fotografierte weit mehr als nur fertige Architekturen, knapp vor Inbesitznahme und so perfekt wie möglich. „Zwischennutzungen haben mich immer sehr interessiert.“ So dokumentierte sie das Alte AKH und das Museumsquartier vor und während ihrer Transformation vom Krankenhaus zum Campus der Universität Wien und von der Wiener Messe zum heutigen MQ. Zu weiteren Arbeiten zählen eine Serie an Aufnahmen der stillen Ungeheuerlichkeit zeitgenössischer anonymer Einfamilienhäuser auf dem Land. Alle wunderbar lakonisch komponiert. Diese sind nun im Kombi-Pack mit Dia-Projektionen vom Alten AKH und Feldstudien über das Universum Wien Nord gleichfalls bei Christine König zu sehen.

Spiluttini bereitete sich immer gut vor. „Ich sah mir natürlich immer die Pläne an, bin mit den Architekten durchs Haus gegangen, habe mit aber nie etwas drein reden lassen.“ Aufnahmen mit ausgebreitetem Pelz über dem Bett oder ähnlichen Utensilien verweigerte sie konsequent. Im vollsten Bewusstsein um die Manipulierbarkeit von Fotos, was schon Friedrich Kiesler, Rudolf Schindler, Le Corbusier und in der medialen Verbreitung ihres Werks erfolgreiche Architekten genau einkalkulierten, behielt sie die letztinstantliche Oberhoheit über die Gestaltung ihrer Bilder: Die Wahl von Standpunkt, Blickwinkel, Objektiv. So wird man zur Grande Dame. Ihre Handschrift ist unverkennbar. „Ich war nicht verdorben durch irgendeine Ausbildung“, sagt sie. Gelassen ignorierte sie geltende Dogmen. „In der gewerblichen Fotografie musste der Himmel zum Beispiel Wolken haben. Ich aber habe es interessant gefunden, wenn es regnete und sich das Haus im Wasser spiegelte.“
Was macht ein gutes Foto aus? Diese Frage ist unmöglich in einem Satz zu beantworten. „Wie lange haben wir denn Zeit?“, fragt Spiluttini scherzhaft. So viel, dass sie pünktlich zur Preisverleihung in St. Pölten ist. „Wenn die Wahrnehmung der dreimimensionalen Wirklichkeit auf einer zweidimensionalen Wirklichkeit so gelungen ist, dass die Betrachtenden sich viel darunter vorstellen können und ihrer Interpretation viel Freiraum gelassen wird.“ Allerdings: „Es hängt sehr viel davon ab, in welchem Zusammenhang ein Bild präsentiert wird.“ 1981 entdeckte sie in einer Ausgabe von „DIE ZEIT“ drei mal die gleichen vier Fotos in unterschiedlichen Kontexten mit anderen Bildtexten. „Es war die Aktion des Konzeptkünstlers Allan Kaprow und für mich ein enormer Lernprozeß.“



Spiluttini ist an Multipler Sklerose erkrankt, seit 2006 sitzt sie im Rollstuhl, ihr Lebensgefährte Gunther Wawrik hat eine formschöne, rot-blaue, aufklappbare Rampe konstruiert, damit sie immer noch auf den Balkon fahren kann. „Das letzte, was ich als Auftrag fotografiert habe, war das Stadtkino von Gabu Heindl 2014“, sagt sie. Seither kümmert sie sich um ihr Archiv und reflektiert ihre eigene Arbeit und die Transformation des Mediums ins Internetzeitalter. „Bei dieser Gelegenheit unternimmt es Spiluttini, gewissermaßen in eigener Sache, auch die mediale Struktur ihrer Tätigkeit transparent zu machen: mittels Fotografie selbstreflexiv die immantente Wirklichkeit von Fotografie aufzuzeigen, die weiterführenden Rituale ihrer Speicherungen und Nutzungen anzusprechen, die Stadien ihrer Archivierungen und der daraus destillierten Umsetzungen zu betrachten, also die ,sekundäreʻ Ebene mittels auf Bildern fixierter Daten samt zugeordneten Ordnungsmustern, Vertextungen und Interpretationen in ihren Verdinglichungen abzuspiegeln, als je eigene Welten anzudeuten“, schrieb Otto Kapfinger zur Ausstellung „Archiv der Räume“ in der Landesgalerie Linz/Köln 2015 und charakterisiert sie in seiner Laudatio zum Staatspreis unvergleichlich treffend: „Trotz der absurden Krankheit und Behinderung zeigst Du eine ungemein anziehende, offene Freiheit des Gemüts, eine Wachheit und kritische Regsamkeit des Geistes und der Sprache, intellektuelle Unersättlichkeit, unsentimentale Scharfzüngigkeit – ausbalanciert mit so viel Empathie, so viel Witz und Herzlichkeit!“
Vielen Dank an Rita Newman und die Galerie Christine König für die Erlaubnis, diese Fotos online stellen zu dürfen.