Die deutsche Sprache war das Lebenselixier von Melitta Grünbaum. Dann kam der Nationalsozialismus über Österreich. Die jüdische Schauspielerin und Intellektuelle konnte mit ihrer Familie nach Island fliehen, die Künstlerin Ingrid Gaier widmete ihr und ihrer Arbeit einen Film.
Isabella Marboe
„Wirf deine Angst in die Luft/Bald ist deine Zeit um/bald/wächst der Himmel/unter dem Gras/fallen deine Träume/ins Nirgends“. Dieses Gedicht von Rose Ausländer wählte Ingrid Gaier aus, als sie einen Film über die leere Wohnung ihrer Nachbarin drehte. Diese Frau hatte ihr Leben lang Angst. „Noch/duftet die Nelke/singt die Drossel/noch darfst du lieben/Worte verschenken/noch bist du da“, heißt es weiter. Und dann: „Sei was du bist/Gib was du hast.“
Für Juden und Jüdinnen war es während der Zeit des Nationalsozialismus todbringend, zu sein, was sie waren und zu geben, was sie hatten. Es wurde ihnen ungefragt genommen. Ihr Leben, ihr Besitz, ihre Existenz. Rose Ausländer überlebte das Czernowitzer Ghetto in einem Kellerversteck, 1946 emigrierte sie nach New York, seit 1965 lebte sie in Düsseldorf, wo sie 1988 starb. Wien hatte sie nicht mit offenen Armen aufgenommen. „Wer bin ich, wenn ich nicht schreibe?“ fragte sie.
In Gedichten überleben
Auch für Melitta Urbancic, geborene Grünbaum, war das Schreiben überlebenswichtig. Sie liebte die deutsche Sprache wie keine andere. Die jüdische Schauspielerin und Intellektuelle wurde 1902 als Tochter eines Wiener Rechtsanwalts geboren, für ihr Philosophiestudium wechselte sie eigens an die Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg, damals der Olymp der Geisteswissenschaften. Karl Jaspers und Friedrich Gundolf lehrten dort, Grünbaum dissertierte summa cum laude, hatte zwischenzeitlich am Reinhardt Seminar Schauspielunterricht genommen und wurde Schauspielerin. Dafür war Wien der beste Ort.
Im Jahr 1930 heiratete sie den Musiker und Komponisten Victor Urbancic, es muss eine Lebensliebe gewesen sein. Sie engagierte sich in der Friedensbewegung, immer schwerer und drückender legte sich der Schatten des Nationalsozialismus über Österreich, das für sie und ihre Kinder als Jüdin immer bedrohlicher wurde. Zukunft hatten sie hier keine, Ausreisevisa in die USA ergatterte das Paar nicht, die Grenze in die Schweiz war dicht. Schließlich gelang es Victor, mit einem ehemaligen Studienkollegen, der illegaler Nationalsozialist war, die Stelle zu tauschen. Nazi-Österreich für den einen, ein Posten in Reykjavik am Ende der Welt für den anderen.
Die Gedichte von Rose Ausländer bewegten Ingrid Gaier tief. „Dieser Aufruf, die Angst zu überwinden, hat so viel Kraft.“ Die Künstlerin begann, sich auf die Suche nach anderen Exil-Autorinnen zu machen. Sie beeindruckte, wie diese Frauen ihre Fluchterfahrung für ihr Leben fruchtbar machen konnten. Im Wiener Literaturhaus entdeckte sie einen schmalen Gedichtband von Melitta Urbancic. Ihr gefiel die Lyrik dieser Frau, von der sie noch nie gehört hatte.
Das Literaturhaus hatte die Adresse von Melittas Tochter. Sibyl Urbancic lebt in Wien-Döbling in einer Wohnung voller Noten, wo die Bücher bis an die Decke reichen und europäische Geistesgeschichte immer gegenwärtig ist. Ingrid Gaier war willkommen, die kleine, gebückte Frau mit den kurzen Haaren freute sich über ihr Interesse, sie hatte Gedichte ihrer Mutter für sie vorbereitet. „Es waren Originale, mit einer alten Schreimaschine getippt“, erinnert sich Gaier an den Besuch, der alles ins Rollen brachte. Melitta Urbancic schrieb über das Gefühl, Europa hinter sich versinken zu sehen, den Schmerz, nicht dazu zu gehören und andere existenzielle Zustände.
Briefe als Nabelschnur zur Welt
Als Fluchtort für eine jüdische Familie war das weltentrückte Island perfekt, als künftige Heimat war es die Wiener Intellektuelle Melitta Urbancic ein Kulturschock. Die geschlossene Gesellschaft mit ihrer patriarchalen Struktur blieb ihr ebenso fremd wie die Sprache, die nie die ihre werden sollte. Die lange Finsternis, die archaischen Gewalt des Meeres und der Natur setzten ihr zu. Ihre Gedichte aus dieser Zeit erzählen von abgrundtiefer Einsamkeit und Isolation. Ihr Mann Victor lebte sich wesentlich besser ein. Er interessierte sich für die isländischen Lieder, die dortige Volksmusik, beherrschte die Sprache bald und wurde zu einem Inkubator des Musiklebens in Reykjavik. Ihr viertes Kind kam zur Welt, Melitta kämpfte um eine Annäherung an ihre neue Heimat und spürte dem Wesen der befremdlichen Landschaft nach. Sie war naturwissenschaftlich interessiert, beobachtete, dass es keine Bienen und forschte eine Art aus, die in kalten Klimazonen überleben konnte. Melitta Urbancic siedelte einige Völker an und begann mit der Bienenzucht. Heute gibt es Imker in Island.
„Mich hat ihre Resilienz interessiert“, sagt Ingrid Gaier. Obwohl sie in Island lebte und mit ihrer Literatur nie ein größeres Publikum erreichte, hörte Urbancic nie auf, zu schreiben. Das Schreiben war ihre Nabelschnur zur Welt. Sie schrieb unzählige Briefe an viele Seelenverwandte und Geistesgrößen ihrer Zeit und pflegte Korrespondenzen. Ein widmete dem Brief als solchem auch ein Gedicht. Ein Brief kann die ganze Welt enthalten. Die Liebe zu ihrem Mann Viktor, die Trauer um ihn, das Weiterleben müssen und doch stets verbunden bleiben sind auch ständig wiederkehrende Themen in ihren Gedichten.
Annäherung an Island
Ingrid Gaier fuhr auf einige Wochen nach Island, um nachempfinden zu können, welchen Eindrücken Melitta Urbancic in ihrem Exil ausgesetzt war. Die Weite der Landschaft, das tiefe Schwarz der langen Nächte, die starken Farben, das Blubbern der Lava, die Macht des Meeres und die Einsamkeit der Insel wirkte auf sie ein. Die große Bedeutung, die Briefe für Melitta Grünbaum als Verbindung zur Welt hatten und die Macht der Landschaft wurden zu Ausgangspunkten der Zeichnungen für den Animationsfilm „Lebenszeichen“, den sie über die Künstlerin und deren Beziehung zum Briefschreiben gemacht hat. Den faszinierenden Sound dazu komponierte die zeitgenössisch-experimentelle Musikerin Ragnheiður Erla Björnsdóttir.
Im Gedicht „Lava-Garten“ setzte Melitta Grünbaum der isländischen Landschaft ein Denkmal. „Die Wüste schweigt/Es schweigt auch noch die Luft./Kein Vogellaut./Kein fernes Bachgeriesel. Kein Halm, der zwischen Lava-Block und Kiesel/sich regen könnte in der Riesengruft.“ Immerhin lässt sich in der zweiten Strophe doch ein scheues Wiesel ausmachen, das zwar lautlos schnell in schwarzer Kluft verschwindet, doch es war da und lebt weiter in friedlicher Koexistenz mit dieser Landschaft, der die Dichterin am Ende doch Achtung zollt. „Doch in der Tiefe sammelnd neue Kräfte/ blüht mir im Lied aus roten Lavabrocken/ erstarrte Glut statt blauer Sehnsuchtsglocken !“
Grünbaum zog es immer wieder nach Wien, doch sie blieb nie, zu tief saß ihr die Angst in den Knochen. Begraben ist sie in Purkersdorf bei Wien. „Wirf deine Angst in die Luft!“ Sie hat sich ausgesöhnt mit dem Ort, dem sie ihr Leben verdankte und dem Land, in dem sie geboren war.