Historische Umbrüche manifestierten sich in Krakau stets auch in Architektur. Nach der ersten Unabhängigkeit Polens 1918 und dem Fall des Eisernen Vorhangs entstanden bemerkenswerte moderne Bauten. Eine Ausstellung im Ringturm zeigt sie.
Krakau ist Wien näher als Innsbruck und trotzdem weiß man hierzulande kaum etwas über die Stadt. Was schade ist, denn es gibt dort es nicht nur eine umwerfende Altstadt mit Bau-Kultur im UNESCO-Weltkulturerbe-Format, sondern auch eine Vielfalt hochkarätiger moderner und zeitgenössischer Architektur zu entdecken. Die Ausstellung „Moderne in Krakau“ im Wiener Ringturm zeigt sie.

Der osteuropakundige Kurator Adolph Stiller wählte 20 Bauten aus der „ersten“ Krakauer Moderne zwischen 1920 und 1930, sowie weitere zehn aus, die nach 1989 entstanden sind. Die spezifische kommunistische Moderne sparte er bewusst aus.
Junge Nation
Nach 123 Jahren unter der Herrschaft von Österreich-Ungarn, Russland und Preußen war Polen 1918 endlich unabhängig geworden. Der Stolz und die Identität der jungen Nation zeigten sich auch in der damaligen Architektur. Diese sah nicht überall in Polen gleich aus, Warschau und Krakau interpretierten die Moderne unterschiedlich. Sie schöpfte aus vielen Quellen. Der Historismus der Wiener Ringstrasse, Beaux-Arts, Neoklassizismus, die folkloristische Volkskunst der Tatra-Region, der Deutsche Werkbund und das industrielle Bauen existierten nebeneinander.
In Krakau war die Moderne nicht plakativ nüchtern, brach nicht mit der Tradition, sondern versuchte, den Reichtum ihrer mittelalterlichen, gotischen und neuzeitlichen Geschichte mit dem Fortschritt zu verbinden. Auch das Handwerk und formale Elemente der Volkskunst von Podhala wirkten stark identitätsbildend. Denn diese Region im Tatra-Gebirge war immer von fremden Einflüssen unabhängig geblieben.

Am polnischen Pavillon für die Pariser Weltausstellung (1924 – 25) zeigt sich das sehr deutlich: Architekt Józef Czajkowski entwarf den kleinen, expressionistischen Bau mit einem sehr elaborierten Glasturm in einer geflechtartigen, transluzenten Struktur, der von innen erleuchtet war. Die Meisterschaft des polnischen Handwerks traf hier auf den Expressionismus. Der Pavillon variierte das Motiv des Dreiecks, strotzte nur so von Referenzen und spiegelte sich wie eine Pagode in einem Wasserbecken. Stolz repräsentierten die besten Künstler und Künstlerinnen aus dem Kreis der Gesellschaft für Angewandte Kunst und den Krakauer Werkstätten ihre Heimat. Ihre Arbeiten waren im Pavillon, im Invalidendom und dem Grand Palais ausgestellt.
Wachsende Stadt
Auch wenn Kunst, Handwerk und Architektur der Krakauer Moderne formal nicht extrem progressiv waren, sie transformierte die Gesellschaft epochal: in erster Linie entstanden soziale Wohn-, Schul- und Kulturbauten. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Bürgermeister Juliusz Leo angrenzende Orte in die Stadt eingemeindet, wodurch sich Krakau über die alten Befestigungsmauern hinaus nach einem Stadtentwicklungsplan des Jahres 1909 zu einer Metropole europäischen Formats entwickeln konnte. Es wurde zu einem florierenden kulturellen Zentrum, das auch die besten Architekten des Landes anzog. Sogar die erste Architektin Polens baute hier.

Die Krakauer Moderne schrieb sich gleichermaßen organisch in das Gewebe der Stadt ein. Beim Wohnbau der kommunalen Sparkasse, den Fryderyk Tadanier und Stefan Strojek planten, war das besonders wichtig. Denn dieses faszinierende, achtgeschossige moderne Haus steht in der historischen Altstadt und ist aus Rentabilitätsgründen deutlich höher als seine Nachbarn. Es wurde mit einem sehr fortschrittlichen bauzeit- und damit kostensparenden, patentierten ISTEG-Fertigteilsystem errichtet. Sein runden, sorgfältig gestalteten Eck, das sich elegant in die zwei Gebäudeflügel auffächert, den Geschäften im Erdgeschoss, der dezenten horizontalen Gliederung und den großen Fenstern fügt es sich trotz seiner Größe gut in die Nachbarschaft ein.
Auch das sechsgeschossige Wohnhaus für die Professoren der Jagiellonen-Universität Żeleński liegt auf einem Eckgrundstück. Hier wölbt sich ein Paar halbrunder Erker mit Bay-Windows aus einer konkaven Fassade. Die schwarzen Keramikfließen im Sockel setzen sich als Rahmen um die Fenster und Linien auf der weiß verputzten Fassade fort. Den Architekten Piotr Jurkiewicz, Ludwik Wojtycko und Stanisław Żeleński gelang damit eines der schönsten Häuser der klassichen Krakauer Moderne. Auch Frauen hinterlassen in dieser Aufbruchszeit schon erste zaghafte Spuren im Stadtbild. So plante Diana Reiter das kleine Wohnhaus Elsner, das mit seinem abgerundeten Erkerbauteil in der Mitte eine subtile Eleganz ausstrahlt. Mehr als dieser vielversprechende Anfang war ihr nicht möglich, die erste Architektin Polens wurde im Konzentrationslager Płaszów ermordet. Sie teilte dieses Schicksal mit Jan Ogłódek, der als Häftling 1941 in Ausschwitz erschossen wurde. Er plante den Pavillon im Wolski Wald, das Lieblingsprojekt von Kurator Stiller. Das luftige Ausflugscafé mit der großzügigen Verglasung und den raumhohen Fenstertüren auf die hübsche, halbkreisförmige Terrasse hiner Kolonnaden hat sowohl den Krieg, als auch den Kommunismus unbeschadet überstanden. Man kann dort auch heute noch Kaffee trinken.

Das Kadettenschulschiff „Schleswig-Holstein“ der deutschen Marine setzte dem stolzen Kulturbewusstsein einer jungen Nation am 1. September 1939 um 4.48 Uhr ein jähes Ende: 500 km von Krakau feuerte es auf die sogenannte „Westernplatte“, wo die polnische Armee Munition lagerte. Damit begannen die Invasion Polens und der zweite Weltkrieg. 65.000 Menschen, gut ein Viertel der Krakauer Bevölkerung, großteils Juden und Jüdinnen wurden damals von den Deutschen ermordet. Ausschwitz ist nur 54 Kilometer entfernt, Krakau selbst empfanden die Nationalsozialisten als deutsch. Generalgouverneur Hans Frank machte das Wawel-Schloss zu seiner Residenz, Krakau überstand den Krieg weitgehend unbeschadet, während Warschau von den Deutschen mit einem massiven Bombardement binnen Tagen dem Erdboden gleich gemacht wurde. In einem Akt kollektiver Selbstermächtigung sollten die Warschauer und Warschauerinnen ihre Altstadt später liebevoll rekonstruieren. Eine Art urbanistischer Heilungsprozess.

Der Fall des Eisernen Vorhangs machte Polen wieder frei, wieder wurde Architektur zum identitätsstiftenden Element. Sie manifestiert sich in einer Vielzahl an Kulturbauten und großer Neugier auf die Welt. Das erste große Gebäude, das damals entstand, war das Manggha – Museum für japanische Kunst und Technik. Es verdankt seine Existenz der großen Geste eines großen Polen. 1987 wurde Filmregisseur Andrzej Wajda mit dem hoch dotierten Kyoto Award ausgezeichnet, er widmete sein Preisgeld dem Bau des Museums.

Seine Begeisterung für Japan hatte den polnischen Architekten Christoph Ingarden als Student durch Japan trampen und später um ein ein Stipendium ansuchen lassen. Dort arbeitete er bei Arata Isozaki, der sich dazu bereit erklärte, das Museum zu planen. Es steht gegenüber des Wawelhügels an der Weichsel, Isozaki reagierte auf den Fluss mit unterschiedlich hohen, wellenförmigen Dachflächen mit Oberlichten, die auch innen wellenförmige Decken ausbilden. Es beherbergt die umfassende Sammlung japanischer Kunst, die der Krakauer Mäzen Feliks „Manggha“ Jasieński dem Nationalmuseum gestiftet hatte. Die Geschichte des „Manggha“ ist auch eine Geschichte großer Schenkungen. 2015 wurde seine Erweiterung eröffnet. Den eleganten Zubau planten Ingarden & Ewý Architkeci, die beim Original Isozakis Partner vor Ort waren.
„Wir wollen mit unserer Architektur immer Bestehendes anknüpfen“, sagt Krysztof Ingarden. „Für uns ist es wichtig, die Fragen nach dem Kontext, der Erinnerung und Materialität eines Ortes zu beantworten.“ In Polen geht man mit Bestand wesentlich entspannter um als in unseren Breiten. Rekonstruktion ist eine anerkannte Praxis. Beim Małopolska Garten der Künste haben Ingarden & Ewý den Maßstab, die Umrisse, Proportionen und Backsteinziegel einer Reithalle aus dem 19. Jahrhundert übernommen, die früher dort stand. Das umhüllende Gebäude wurde kontextuell aus den Dachformen und Geometrien der Umgebung abgeleitet. Seine Glasfassade mit den senkrechten, vertikalen Stäben aus rostroter Keramik bildet eine transluzente Haut, hinter der die Bewegung auf den Stiegen und das Leben im Theater, seiner Bühne und der Mediathek dahinter sichtbar bleiben. Im ausgestellten Modell sieht man, wie gut sich das Gebäude in seinen Kontext einfügt.

Dieselben Architekten planten auch mitten im Stadtzentrum auf einem sehr schmalen Grundstück den Wyspiański Pavillon am sogenannten „Königsweg“, der seinen Namen den drei Bleiglasfenstern verdankt, die Stanislaw Wyspiański (1869-1907) ursprünglich für die Wawel-Kathedrale entworfen hatte. Diese stellen den heiligen Stanislaus, Herzog Heinrich den Frommen und König Kasimir den Großen dar. Allerdings zeigte der Künstler erstere im Sterbemonent, sowie den König als Totenschädel mit Krone. Das führte zu heftigen Diskussionen, Ingarden integrierte die Fenster in die Fassade aus drehbaren Keramiksteinen. Sie sind auf Stahlrohren aufgefädelt und dadurch beweglich, sodass man den Lichteinfall regulieren kann. Der Pavillon dient als Ausstellungs-, Konferenz- und Informationszentrum. Jede dieser Funktionen erfordert eine andere Helligkeit.

Ein identitätsstiftender Meilenstein der Zwischenkriegszeit war die Bibliothek Jagiellońska von Wacław Krzyżanowski (1928 – 39). Der große öffentliche Bau mit den schmalen, fast haushohen, vertikalen Fenterlinien und den Kanneluren in der Fassade ist innen und außen aus rosa Granit, goldenem Sandstein, Alabaster und Marmor. Die Konstruktion wurde von Stefan Bryła sehr fortschrittlich aus Stahlbeton mit geschweißten Stahlsäulen geplant, die auch als Lüftungskanäle dienten. Der Erweiterungsbau von Romuald Loegler nimmt die vertikale Gliederung des Bestands auf und verdoppelt dessen Nutz- und Lagefläche. Die typische Kontinuität der modernen Architektur in Krakau setzt sich fort.
Dringende Reiseempfehlung, der Ausstellungskatalog ist dafür sicher nützlich.
Architektur im Ringturm: Moderne in Krakau. Bis 20. Juni