Die Motivpalette des franco-italienischen Bildhauers Medardo Rosso (1858 – 1928) ist schmal und alltäglich, seine bevorzugte Methode die Variation. Er arbeitet mit ärmlichen Materialien. Wachs, Gips, selten Bronze. Die Ausstellung „Medardo Rosso – die Erfindung der modernen Skulptur“ im Wiener Mumok trägt ihren Titel zu Recht. Sie ist schlichtweg eine Sensation.
Die Werke des franco-italienischen Bildhauers Medardo Rosso (1858 – 1928) sind zwar in vielen wichtigen Museen der Welt zu sehen, einem breiten Publikum aber ist er nie so richtig bekannt geworden. Das ist vermutlich einer der Gründe, warum ihm das Wiener Museum Moderner Kunst (Mumok) eine große Werkschau widmet. 50 Skulpturen und zahlreiche bisher selten gezeigte Zeichnungen und Fotografien sind darin zu sehen. Und vorweg: Sie ist eine der Highlights des zu Ende gehenden Ausstellungsjahres in Wien. Vielleicht mag überraschen, dass ausgerechnet Medardo Rosso als „Erfinder“ der modernen Skulptur dargestellt wird. Diese Auszeichnung könnte – von Europa aus gesehen – durchaus auch Künstlern wie Constantin Brancusi oder Auguste Rodin zukommen, der eine jünger, der andere älter als der Italiener. Aber hier ist die Sicht auf die Kunstgeschichte aus heutiger Perspektive gefragt: Eines der aktuellen Schlagworte ist „Relationalität“, also jene Eigenschaft eines Kunstwerks, die auf komplexe Beziehungsgeflechte verweist. Beziehungen zu anderen Künstler:innen genauso wie zu ästhetischen oder politischen Diskursen. Und hier überrascht Rosso sowohl mit seinem frühen kontextbezogenen Ansatz als auch mit einem unorthodox-erfindungsreichen Material- und Medienmix, der den Bogen zur zeitgenössischen Plastik mühelos schafft.
Die „Relation“ zu anderen Künstlerinnen und Künstlern – darunter ältere wie Brancusi, Rodin oder Raymond Duchamp-Villon, aber auch jüngere und vor allem weibliche wie Eva Hesse, Yayoi Kusama oder Marisa Merz – ist ein weiterer kuratorischer Schwerpunkt der Ausstellung, der im zweiten Stock des Museums viel Platz erhält. Diese Kontextualisierung wird mit Rossos eigener Praxis begründet, der zu seinen Arbeiten selbst Werke anderer Künstler gestellt hat, immer wieder Auguste Rodin, mit dem ihn zunächst eine Freundschaft verband, von dem er sich aber in seinen späteren Lebensjahren aufgrund eines unterstellten Ideenklaus distanzierte.
Impressionistische Skulptur
Mit Ausnahme eines kurzen Studienjahres an der Accademia di Brera in Mailand war Medardo Rosso (1858 Turin – 1928 Mailand) ein Autodidakt, der ab 1889 permanent in Paris lebte. Von seiner Biographie ist wenig bekannt, er führte ein exzentrisches Künstlerleben, indem er öffentliche „Gussperformances“ inszenierte und ich beim Schaugießen der Wachsabgussverfahren darstellen ließ. Er deklarierte sich als „Anarchist“, wobei keine politischen Aktivitäten festgehalten sind, nannte aber seinen Sohn Francesco Evviva Ribelle (Francesco, Hurra Rebell!). Medardo Rosso nahm die französische Staatsbürgerschaft an und kehrte erst spät mit über fünfzig Jahren nach Mailand zurück. Zwei mal war er auch in Wien, wo 1903 Arbeiten von ihm im Rahmen einer Impressionismus-Ausstellung in der Wiener Secession und 1905 in einem Kunstsalon am Kohlmarkt gezeigt wurden.
Rossos plastische Werke sind erstaunlich homogen: Wir sehen Köpfe, Büsten oder kleinformatige Figurengruppen, die auf Sockel oder Rahmen gestellt wurden, die der Künstler selbst designte – meistens Einzelobjekte in warmen Erdtönen wie Wachsgelb oder Rotbraun. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Materialien, die für seine Zeit sehr untypisch waren: oft verwendete er Wachs und Gips, seltener auch Bronze, „arme“ Materialien also, die stark im Gegensatz zur traditionellen Denkmalkunst mit ihren gewichtigen Werkstoffen standen. Auch bei der Wahl seiner Themen war Rosso anti-monumental. Ein Kinderkopf, eine Mutter mit Kind, die Pförtnerin, der Buchmacher oder Lesender Mann sind die eher unspektakulär klingenden Titel und Sujets dieser Arbeiten. Die Wahl der Motive zeigt einerseits ein Interesse für alltägliche Themen, lässt aber auch die sozialen Umbrüche der Zeit anklingen, denn es sind nicht mehr heldenhafte, entrückte Figuren, die hier auf dem Podest stehen, sondern anonyme Menschen, die die Straßen der Großstädte bevölkerten und in einem banalen Moment ihres Lebens gezeigt werden. „La Portinaia – die Pförtnerin“ (1893 mit diversen Abgüssen) besteht aus einer amorphen Masse aus Gips, der mit Wachs überzogenen ist in der ungefähren Form einer Pyramide. Kopf und Gesicht an der Spitze sind kaum zu erkennen, der klumpenförmige Kopf ist leicht nach vorne geneigt – ist die Pförtnerin eingenickt? –, ihr umhangverhüllter Körper ergießt sich über den Sessel und verhüllt diesen komplett, bevor er fast nahtlos in den Sockel übergeht.
Tatsächlich könnte man Rossos Ansatz als „impressionistisch“ bezeichnen: Obwohl physisch und materiell präsent, scheinen sich die Werke vor den Augen der Betrachterin zu verflüchtigen, als ob sie sich jedem prüfenden Anblick entziehen wollten. „Anti-heroisch“, aber auch „unscharf“ nennt Kuratorin Heike Eipeldauer Medardo Rossos amorphe Skulpturen. Das trifft auch auf die unglaublich nuancenreichen Zeichnungen und Fotografien zu. Rosso schien sich in einem endlosen, fast wissenschaftlichen Reflexionsprozess zu verlieren, indem er seine eigenen Werke immer wieder abfotografierte, neu beleuchtete und verschiedene Ausschnitte und Formate testete. Die Ausstellungsgestaltung von Walter Kräutler und Florian Pumhösl ist bis auf die Ausnahme semi-transparenter Raumteiler eher zurückhaltend. In punktuell erleuchteten Vitrinen entwickelt das zeichnerische und fotografische Werk eine magische Aura.
Amorph, ungestalt und flüchtig
Dieser so gänzlich nicht-instagrammierbare Ansatz trifft im zweiten Teil der Ausstellung auf Referenzwerke, die die weitere Verwandtschaft dieser exemplarischen Künstlerposition abdecken. Darunter Louise Bourgeois‘ imposante Installation „Child devoured by kisses“ (1999) – ein Knäuel textiler Körperteile in einem übergroßen käfigartigen Gehäuse. Sie gesellt sich hier zu Rossos Gruppe der Mutter-und-Kind-Figuren. Eine großartige Fotoserie von Phyllidia Barlow mit Materialassemblagen hängt nahe einer Radierung von Käthe Kollwitz, deren Mutter-Kind-Interpretation die leidvolle Seite des Mutterseins zeigt. Auch post-minimalistische Objekte von Eva Hesse, Paul Thek oder John Chamberlain lassen eine Nähe zum italienischen Bildhauer erkennen. Es verbinden sie die Beziehung von Material und Gegenstand-Behand oder vergleichbare inhaltliche Impulse. Man kann, muss sich aber nicht diesen Referenz-Vorschlägen anschließen. Es ist ein weiterer Pluspunkt dieser Ausstellung, dass so viele beeindruckende Werke hier versammelt sind.
Medardo Rosso war ein Künstler, der an den Übergängen von Methoden, Medien und Materialien arbeitete. Seine kleine Motivpalette testete er vor allem in der Wiederholung und der Variation. Es könnte keine langweiligere Ausgangslage für eine große Retrospektive geben. Das vermeintlich Immergleiche entfaltet in der durchdachten Präsentation eine starke Sogwirkung, die immer wieder neue Facetten dieses Werkes preisgibt und die gerade in der heutigen digitalen Welt fasziniert. Dass diese Ausstellung alles andere als langweilig ist, kann als die eigentliche Sensation gelten.