Mayerling 1 war einmal eine erste Adresse für Gourmets, nun wird es zur ersten Adresse für unbehauste Menschen, die eine feste Bleibe und Halt suchen. Die VinziRast am Land betreibt das einstige Hotel von Haubenkoch Heinz Hanner mit ihren Bewohnern und vielen Freiwilligen als Landwirtschaft mit Gästezimmern, wo man wieder Boden unter den Füßen gewinnen kann.
Die Jungpflanzen standen in ihren Töpfen vor dem Glashaus Spalier, das Kopfsteinpflaster am Boden haben Steinmetze gespendet und Lehrlinge verlegt. Das Wetter war gut am 7. Mai 2023. über 500 Leute kamen zum Eröffnungsfest der VinziRast am Land in Mayerling 1. Dort können Menschen, die in sich und der Welt unbehaust sind, durch die Arbeit mit Pflanzen wieder Boden unter den Füßen fassen. Hier gibt es eine große Landwirtschaft, einen Rolls-Royce von Gastroküche, für jeden ein eigenes Zimmer und eine Gemeinschaft, die Halt gibt. Um 15 Uhr war das Essen aus, obwohl sechs Frauen in der Küche tagelang gekocht und Freiwillige das Kuchenbuffet reich bestückt hatten. Dabei liegt Mayerling gerade einmal für Wandernde auf der Pilgerroute nach Mariazell günstig. Mit dem Auto fährt man von Wien gut vierzig Minuten, öffentlich ist es lausig zu erreichen.

Früher konnte man hier auch mit dem Hubschrauber landen, die heutige VinziRast am Land war einmal eine Pilgerstätte für Gourmets der High-Society. Hier kochte Heinz Hanner auf, der mit 23 Jahren seine erste Gault-Millau-Haube bekam. 1990 kaufte er seinen Eltern ihre Jausenstation „Marienhof“ mitsamt 27.000 m2 Grund ab und baute sie nach und nach zum „Restaurant Hotel Meeting Point Hanner“ mit Haubenlokal, Bar, Seminarräumen, 37 Zimmern in drei unterschiedlichen Kategorien, Fischteich und Hubschrauberlandeplatz aus. Zwei Sterne im Guide Michelin, drei Hauben und 18 Punkte im Gault Millau, vier Falstaff Gabeln: Strengere Compliance-Regeln ließen die Kundschaft schwinden, 2016 musste der Betrieb schließen, 2018 ersteigerte eine Privatstiftung von Hans Peter Haselsteiner die Liegenschaft. Die Geschichte des Hauses ist eine von frühem Erfolg, raschem Wachsen, Scheitern und der Chance auf Neuanfang. Das passt zur VinziRast.
„Diese Tomaten sind Scheisse, sie stehen alle nicht.“ Tiefstes, autochtones Wienerisch. Karl* hockt über den Töpfen mit den Setzlingen, die dicht an dicht, je sechs in vier Reihen nebeneinander in einem Plastikuntersetzer stehen. Er ist drahtig, hat ein Kapperl auf, ein bandagiertes Knie und ärgert sich. Er ist neu bei den Paradeisern, vorgestern hat er angefangen, heute knicken die jungen Stauden alle um: Jemand hat vergessen, sie auseinander zu rücken. „Sie haben sich gegenseitig gehalten“, erklärt er. „Jetzt müssen sich erst an den Wind gewöhnen. Der kann sie leicht brechen.“ Paradeiser brauchen gemeinsam weniger Energie. Nun muss sie jemand stützen, bis sie sie wieder alleinstehen können. Wie die Menschen. Kurt ist einer von elf, die momentan in der VinziRast am Land wohnen.







Vögel zwitschern, Grillen zirpen, immer wieder kräht der Hahn. Schwarze, braune, gescheckte, zerrupfte, kleine, große, drahtige und fette Hühner staksen aufgeregt gackernd durch das Gras. Manche – die besonders freiheitsliebenden und immer dieselben – schaffen es über den Zaun in die noch größere Freiheit, kommen aber immer verlässlich wieder zurück. Sie wissen, wo ihr Zuhause ist. „Es ist ein Luxushotel für Hühner“, sagt Dennis Reitinger, der auf der Boku studiert, die Landwirtschaft in Mayerling aufgebaut und mit der Hühnerzucht begonnen hat. Alles hier hat Geschichte, auch der Stadel. Er ist eine Schenkung und stand ursprünglich im Kamptal. Ein Zimmermann aus Gars baute ihn ab, Lehrende und Schüler der HTL Mödling bauten ihn am Rand des Parkplatzes wieder auf und rüsteten ihn dabei gleich mit Solarpaneelen am Dach zum Stromproduzenten hoch. Insgesamt sechs Rassen leben hier in Freilandhaltung, rund 160 Hühner, sie legen in einer guten Woche gute tausend Eier. Die sind so verschieden wie die Hennen und sehr beliebt: zartgrün, dunkelbraun, ockerfarben, weiß, einige so klein wie Wachteleier, andere riesig. Die vollen Eierkartons sind nach Wochentagen sortiert: Sa, So, Mo, Di, Mi. Je nachdem, wann sie gelegt wurden. Sie stehen aufeinander gestapelt in einem Regal des Raumes, der sich gerade zum Hofladen mausert. „Gemüsekistel sucht Erntehelfer“, ist auf eine Flipchart geschrieben, die Gläser mit Marillenröster im unteren Regalbord stammen aus dem Vorjahr. Hier wird schon länger gebaut, gelebt, gewohnt, gesät und geerntet.
Seit fünf Jahren ist Veronika Kerres die Obfrau des privaten Vereins. „Wir erhalten keine Förderungen und versuchen, möglichst viel mit Freiwilligen zu arbeiten. Wir müssen nicht beurteilen, ob jemand Anspruch auf unsere Hilfe hat.“ Die Vinzirast hilft einfach. „Obdachlose Menschen sind zu 93% psychisch krank. Ein Schlüssel zu einem Zimmer reicht nicht, wir möchten sie zu ihren Ressourcen bringen.“ Im Lokal VinziRast-mittendrin kann die VinziRast einige Arbeitsplätze anbieten, auch in der VinziRast am Land wird das möglich sein. „Das Grundstück ist nicht landwirtschaftlich gewidmet. Diese Immobilie gehört uns nicht, doch sie hat eine aufrechte Gewerbegenehmigung“, so Kerres. Deshalb werden hier auch Zimmer an Pilgernde vermietet und wurde die VinziRast am Land BetriebsgesmbH. gegründet.


Viele Obdachlose kommen ursprünglich vom Land, sie suchen die Anonymität der Stadt, um sozialer Kontrolle, Stigmatisierung und Scham in ihren Herkunftsorten zu entkommen. Die Stadt ist für die meisten kein gutes Biotop, sie verlieren förmlich den Boden unter den Füßen. So kam der Verein auf die Idee, eine VinziRast am Land zu gründen. In Maria Anzbach hatte man schon einen Hof in Einzellage erworben, letztlich übernahm ein Bauer. Da bot Hans Peter Haselsteiner dem Verein das Anwesen in Mayerling zur Nutzung. An einem unwirtlichen, verregneten Herbsttag im Jahr 2019 begutachteten Teile des Vorstands, Alexander Hagner und Ulrike Schartner vom Architekturbüro gaupenraub +/- den Bestand mit seinen stolzen 3.500 m2 Nutzfläche zum ersten Mal. „Wir haben im Keller begonnen und viele Zeitepochen durchschritten. Den elterlichen Marienhof aus den 1930er Jahren, die erste Erweiterung aus den 1970ern, weitere in den 1980er und 2000er Jahren“, sagt Ulrike Schartner. Je jünger die Bausubstanz, umso kurzlebiger die Materialien, was wie Naturstein aussah, entpuppte sich als Kunststeinimitat, teils lag Laminat am Boden des einstigen Luxushotels und Gipskarton ohne Ende. „Nichts, wirklich gar nichts war daran charmant,“ so Schartner.
Prinzipiell reißen gaupenraub +/- nichts ab. „Wir gehen wie Scouts durch den Bestand und erschnüffeln seine Qualitäten.“ Die Architekten begegnen der Bausubstanz mit ebenso viel Wertschätzung wie den Menschen, die sie bewohnen werden. Ganz abgesehen vom CO2 Gehalt, den Altbauten speichern. Insofern sind Erhalt und Ausbau aufgrund ihrer Nachhaltigkeit dem Abriss und Neubau immer vorzuziehen. Die gravierenden bauordentlichen und haustechnischen Mängel zeigten sich erst nach und nach: Geheizt wurde mit Öltank, der Lift hatte eine längst abgelaufene Genehmigung des Jahres 1998, die Lüftung keine, auch ein Nachweis für den Brandschutz fehlte. Diese Auflagen zu erfüllen, erwies sich als langwierig und kostspielig, selbst, wenn nun die meisten Leitungen offen geführt werden. Immer noch ist es schwer, sich in den unendlichen Weiten der Gänge, Stiegenhäuser und Nebenräume zwischen den An- und Zubauten dieses ehemaligen Hotels zurechtzufinden. Überall hängen A4 Zettel mit Pfeilen zur besseren Orientierung.

gaupenraub +/- ergriffen die Flucht nach vorne: die größte Qualität von Mayerling ist die schiere Größe der Liegenschaft. 27.000 m2 Grund mit Fischteich in idyllischer Lage im Wienerwald und ein abgehalftertes Luxushotel mit 3.500 m2 Nutzfläche bieten viele Möglichkeiten. Eine Wäscherei, groß genug, um Aufträge aus dem nahen Pensionistenheim anzunehmen, viel Platz für Seminare, Werkstätten, Kochkurse und Caterings, 37 Zimmer zwischen 12 m2 und 30 m2. Das Stift Heiligenkreuz ist nicht weit – und hat oft zu wenig Betten. Die ehemalige Dachwohnung des Haubenkochs wird zum Schlafsaal für Wander- und Pilgergruppen umgebaut. Je mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für die Bewohner, umso besser. Arbeit stiftet Identität und stärkt das Selbstvertrauen.
Wo früher die Rezeption war, ist nun das Büro von Irina Baumgartner. Sie leitete damals die VinziRast am Land. Im Foyer stehen Barhocker und ein alter Holzkarton: 1er Grand vin, Pichon Longeuville, 12 Blles, 1993. Baumgartner hat lang bei internationalen Hilfsorganisationen gearbeitet und EU-Projekte abgewickelt. „Ich bin nach wie vor überrascht, dass es funktioniert, sich fast ausschließlich durch Spenden zu finanzieren“, sagt sie. „Wir sind von Förderungen unabhängig, müssen nicht ständig Berichte schreiben und können unsere roten Linien selbst festsetzen. Alkohol ist grundsätzlich kein Problem, entscheidend ist, was das Individuum und was die Gruppe tragen kann.“

Einiges hatten gaupenraub +/- aus der Erfahrung mit früheren Projekten gelernt: Vor allem wie wichtig es für die Akzeptanz in der Nachbarschaft ist, Anrainer und Anrainerinnen möglichst früh zu informieren. Deshalb gab es 2019 einen Flohmarkt mit Hühnertaufe durch den Pfarrer und 2020 ein Kürbisfest. Michi Schmid hat die Landwirtschaft von Dennis Reitinger übernommen und ist nun der Herr über die Felder, den Fischteich und das Gewächshaus. 27 Meter lang, 24 Meter breit, wachsen hier auf 650 m2 unter den Glasdächern unterschiedlichste Salate, Gemüse, Kräuter, auch Exotisches wie Okra, Melonen, Physalis. Schmid liebt besonders Schnittblumen, er zieht unter anderem Duftwicken und Zinien. Auch für ihn ist die VinziRast am Land nun genau der richtige Ort. Schmid hat die landwirtschaftliche Fachschule hinter sich, hängte ernüchtert von der Agrarindustrie eine Ausbildung für Druck und Medientechnik an der Wiener Grafischen an und spürte dann umso dringlicher, wie sehr er die Pflanzen vermisste. Michi gründete erst einen Gemeinschaftsgarten, dann eine solidarische Landwirtschaft. Ihm fehlte die soziale Komponente. „Ich möchte auf jeden zugehen“, sagt er. „Im Garten gibt es viel zu tun. Ich mag es sehr gern, mit den Leuten in Kontakt zu treten und ihnen die Pflanzen zu erklären.“



Oben auf der Hügelkuppe am Waldsaum rackern sich Karin* und John* in der Hitze ab. Sie jäten Unkraut. Ernten, Rasen mähen, Hühner füttern, Eier holen: das tun alle gern. Unkraut jäten fast keiner. Der Schwarze mit den Rastalocken und dem entwaffnenden Lächeln kommt aus Toronto und ist während der Covid-Pandemie in Österreich hängen geblieben. „After the Corona Virus I got stuck, I just plugged in here“, sagte er vorhin noch in der Küche beim Abwasch. „It’s really nice. I love it already.“ Kurz darauf hat er eine Fuhre Erde mit der Schubkarre über den Hang geschoben, nun hockt er neben Karin im Gras. Er sieht sofort, wo etwas zu tun ist. „Er hat so eine Körperkraft, er ist dankbar für jede Arbeit“, sagt Michi Schmid. „Er war früher Marathonläufer und bringt Projekte auch zu einem Abschluss. Das ist oft ein Thema.“ Karin wohnt nicht in der VinziRast am Land, doch sie kommt jeden Tag und arbeitet am Feld. Sie ist sehr blass, sehr schmal, sehr introvertiert, immer über die Pflanzen gebeugt, immer in sich versunken. Aber drahtig. Eine zähe Arbeiterin. „Sie sind ein starkes Team“, sagt Michi.
„Wir fühlen, dass wir die Eigentümer dieses Landes sind“, sagt Nabil. In seiner Heimat Lybien betrieb er einen Bauernhof. 2014 suchte er um Asyl in Österreich an, er ist sicher über 60 Jahre alt und sehr gut darin, Maschinen zu reparieren. Keinen interessierte das, er fand keine Arbeit und wohnte bis dato im Corti Haus. Er wird in Mayerling bleiben. „Ich vermisste meine Farm so sehr. Hier sind wir unabhängig, wir bauen unser Gemüse an, backen unser Brot, fangen unsere Fische.“ Nabil richtet sich gerade eine Werkstatt ein, er repariert alles. Auch die Gemeinschaft ist langsam am Wachsen. Die elf Bewohner hier kommen aus sechs Nationen: Kenia, Kanada, Lybien, Deutschland, Syrien, Österreich.

Michael Wuchty ist knapp 50, aber er sieht viel jünger aus. Seine helle Haut verträgt kaum Sonne, er sitzt gern im Schatten auf der Terrasse, der Lieblingsplatz von vielen. Auch er kommt aus dem Corti-Haus und hat eine kleine Odysee hinter sich. Von einem Tag auf den anderen hatte ihn seine Vermieterin aus der Wohnung in der buckligen Welt rausgeschmissen, damals machte er beim WiFi eine Ausbildung zum Spengler, dann kam ein Autounfall, eine Zwischenstation in einer WG im 22. Bezirk, in der er nicht gemeldet war. Er landete in der Gruft. Michael trinkt nicht, wirkt grundsolide, wollte nicht herumstreunen und verbrachte seine Zeit im Tageszentrum. Ina*, eine junge, cool gestylte Frau mit roten Haaren, Piercings, Minirock im Schottenkaro und Dock Martens, setzt sich auf die Terrasse dazu und raucht. Fast alle hier rauchen, zum Zigarettenautomaten in Mayerling geht man eine halbe Stunde, Vorratshaltung empfiehlt sich. Ina und Michi kümmern sich um die Fremdenzimmer, das Frühstück, das Check-in und Check Out. Am zweiten Maiwochenende waren 13 Zimmer belegt und 25 Leute da. Die beiden kamen ordentlich ins Schwitzen, das Feedback war gut.







