Etwa die Hälfte des globalen Kapitals wird in Immobilien investiert. Je mehr Neubau, umso höher der Gewinn. Die Folgen sind fatal: mehr CO2 Verbrauch, teurere Wohnungen, vertriebene Mieter und Mieterinnen. Die europäische Bürgerinitiative „House Europe!“ macht dagegen mobil. Sie kämpft um bessere Gesetze für Bestanderhalt und Sanierung.
Jede Minute wird in Europa ein Gebäude zerstört. Kriege, Starkwetterereinisse, Naturkatastrophen ausgenommen, Spekulation und Profitstreben genügenvollkommen. Denn Grund und Boden sind begrenzt und immer als Sicherheit zu brauchen. 50% des globalen Kapitals wird in Immobilien investiert, die gebaute Umwelt ist der größte Anlagenwert, durch ständigen Abriss und Neubau lässt sich ihr Ertrag vervielfachen. Bis ins Jahr 2050, also in knapp einem schlanken Vierteljahrhundert, werden rund zwei Milliarden Quadratmeter an Bestand abgerissen worden sein. Das entspricht der Hälfte aller Bauten Deutschlands oder mehr als ganz Paris und Berlin zusammen. Man hätte auch einfach sanieren können und damit nicht den Wohnraum von rund 50 Millionen Menschen vernichtet. Viele davon werden sich den Neubau nicht mehr leisten können, denn der kostet meist zwischen 20% und 30% mehr. Sie werden ihre vertraute Nachbarschaft verlassen, die mit ihnen auch ihre Identität verliert. Denn Menschen formen einen Ort, sie bilden Stadt.

Neubau, ist genau kalkulierbar und gut eingebübt. Man weiß, wie es geht und kommt ohne Fachkräfte aus. Die Sanierung von Bestand ist wesentlich komplexer, erfordert Kreativität, handwerkliche Kompetenz und wirft wesentlich weniger Gewinn ab. Immobilien sind heute schon längst weit mehr Spekulationsobjekte als Räume zum Leben. Für Investoren ist die Sanierug von Bestand ein Verlustgeschäft, während Abriss und Neubauten Gewinn versprechen, Nutzfläche vermehren und als Wertanlage gut zu vermarkten sind. Diese Praxis vernichtet kulturelles Erbe, verändert Stadtbilder, zieht viele soziale, ökonomische, ökologische Probleme nach sich und zerstört tausende Existenzen. Immobilienspekulation produziert Millionen Quadratmeter an Leerstand und führt dazu, dass sich immer mehr Menschen das Wohnen nicht mehr leisten können. Sie werden an die Peripherie, im schlimmsten Fall in die Obdachlosigkeit gedrängt, während Stadtzentren veröden und zu überteuerten, touristischen Disneylands mutieren. So weit, so schlecht.
Doch Widerstand formiert sich. Alte Häuser haben keine Lobby, Olaf Grawert und Arno Brandlhuber wissen, wovon sie sprechen. Sie betreiben gemeinsam das kollaborative Architektur- und Designbüros b+, das sich auf die adaptive Nutzung alter Gebäude spezialisiert hat. Grawert hat außerdem an der ETH Zürich einen Lehrstuhl für Story-Telling inne. Denn wer andere davon überzeugen will, in Bestand ein großes Potential statt eines großen Mangel zu sehen, braucht Geschichten, die Menschen verführen und überzeugen. „Man kann auch erfolgreich Architektur machen, ohne ein Gebäude zu bauen“, sagt Arno Brandlhuber.

Renovierung und Umbau sollen zur neuen Norm, alte Bauten nicht mehr abgerissen werden, um Häuser, Gemeinschaften und Kulturen zu erhalten, eine gerechtere und lokalere Bauwirtschaft zu schaffen, sowie Energie und Ressourcen zu spareb. Mit diesem Anlieben wollen sie weit mehr Menschen ansprechen als nur die Architekturszene. Die Bauinustrie ist für 38% des globalen CO2 – Ausstoßes verantwortlich – zum Vergleich: Fliegen kommt auf 3,5% – und produziert 35% des Mülls. Private Haushalte liegen bei 8%. Trotzdem wurden bisher nur 11% aller bestehenden Bauten in Europa saniert, bleiben noch üppige 89 %. Genug Beschäftigungsprogramm und Betätigungsfeld für die kommenden Jahrzehnte. Europas Renovierungsrate liegt bei 1%, es würde also hundert Jahre brauchen, den Gebäudbestand zu sanieren und ausreichend Arbeitsplätze schaffen.
Die Bauwende erfordert ein radikales Umdenken. Brandlhuber und Grawert gründeten die europäische Bürgerinitiative „House Europe!“. Sie fordert EU-weite Gesetze, die das Erhalten und Umnutzen von Bestand einfacher machen. Für Sanierung und Recycling von Material soll es Steuererleichterung geben, außerdem braucht es eine Evaluierug der Potentiale und Risiken alter Bauten. Denn ihre Qualitäten werden bis dato nicht bepreist. Was sie ihren Bewohnern und Bewohnerinnen als Lebensraum bedeuten, wie sie ihr Umfeld prägen, welche baukulturellen, sozialen, gesellschaftlichen und historischen Werte sie repräsentieren. Auch für die Berechnung der grauen Energie – die Energie an Materialien, Transport, Bau und Betrieb, die ein Gebäude speichert – dazu Abriss- und Recyclingkosten sollten neue Standards gelten. Der einzige Haken an der Sache: es braucht eine Million Unterschriften, um die Sache vors EU-Parlament zu bringen. Von insgesamt 130 EU-Bürgerinitiativen schafften das erst zehn.

„House Europe!“ ist in mehrer Hinsicht bemerkenswert, weil es gleich mehrere Zukunftsthemen adressiert, dabei zu demokratischen Mitteln greift und EU-weit einen Schritt gegen die allgemein grassierende Ohnmacht setzt. An ihre Stellte treten Solidarität und Austausch. Denn jedes europäische Land geht anders mit seinem Bestand um. Gemeinsam ist allen, dass er sich laufend vermehrt. Denn immer mehr Bauten, deren ursprüngliche Nutzungen sich in einer Zeit der Digitalisierung, Profanisierung und Optimierung überlebt haben, stehen leer.
So auch der Mäusebunker, ein ikonisches Versuchslabor der Charité Berlin. Seine Architektur inszeniert die Technologie, die sie am Laufen hielt, in ihr wird die Vorstellung manifet, dass der Mensch alles kontrollieren kann. Als sie einen Vorchlag für eine mögliche Wiederverwendung des Mäusebunkers machten, fiel ihnen auf, dass es keine gesetzliche Handhabe gibt, die Neu- oder Umnutzung eines alten Gebäudes durchzusetzten. So ließe sich beispielsweise ein Museum gut in einem leerstehenden Flughafen integrieren. Gerade aus solchen ungewöhnlichen Konstellationen könnte super spannende Architektur entstehen.



Anne Lacaton&Jean -Philippe Vassal, Frédéric Druot, Christophe Hutin
© Philippe Rouault
Engagierte Bürger und Bürgerinnen haben sich zur Europäischen Bürgerinitiative „House Europe!“ zusammengeschlossen, um Sanierung, Ausbau und Nutzung von Bestand zur neuen Norm zu erheben. Die Liste ihrer Unterstützer und Unterstützerinen ist nicht unbedingt lang, aber umso hochkarätiger besetzt. „Niemals abreißen, niemals entfernen oder ersetzen, immer hinzufügen, umgestalten und wiederverwenden“, lautet das Credo von Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal. Gemeinsam mit Frédéric Druot und Christophe Hutin gelang es ihnen, ein sanierungsbedürftiges, ungeliebtes, Wohnregal der 1960er mit horrend schlechten Wärmedämm- und Schallschutzwerten zu einem wirklich lebenswerten Haus mit hoher Wohnqualität zu verwandeln. Sie setzten einfach eine Art Wintergarten mit umlauendem Balkon vor die bestehende Außenfassade. Diese unbeheizte Raumschicht wirkt als Klimapuffer und schenkt den Bewohnerinnen gleichermaßen ein erweitertes Außenwohnzimmer. Sie nutzen es auf unterschiedlichste Weise. Als Grünhaus für Pflanzen, als Bibliothek, für Fitness, zum Chillen, Rauchen, Relaxen. Die Mieten stiegen nicht wesentlich an. Dieses Projekt zählt zu den geglückten Referenzbeispielen, die House Europe anführt.


©NL_Architects


©NL_Architects
Auch das Sanierungskonzept der riesigen Wohnanlage DeFlat Kleiburg im Amsterdamer Stadtteil Bijlermeer ist vorbildlich innovativ. Dieser riesige, 400 Meter lange Komplex ist eine typische Megastruktur der 1970er Jahre. Mehrere Betonfertigteilbauten mäanderten als geknickte Wohnscheiben um wabenartige Innenhöfe. DeFlat Kleiburg war eine größten Anlagen der Niederlande. Bei der bisherigen Quartierserneuerung in Bijlermeer hatte man sich meist der ungeliebten Bausubstanz entledigt und sie durch Neues ersetzt. NL Architekten und XVW Architektuur verfolgten eine andere Strategie: Sie konzentrierten sich auf allgemeine Flächen, Erschließung und Sockelzone, die einzelnen Wohnungen vergab man unrenoviert wie sie waren sehr günstig an ihre künftige Bewohnerschaft. Diese sanierte sie nach eigenem Bedarf und Vermögen, jede ist sehr individuell. Trotzdem entstand hier schon eine Gemeinschaft.
Bis zu 31. Jänner 2026 will „House Europe!“ online eine Million Unterschriften sammeln, die braucht es, um sein Anliegen beim Europäischen Parlament vorzubringen. Von insgesamt 130 Bürgerinitiativen schafften das gerade einmal zehn. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt und bis Jänner ist noch Zeit. Derzeit steht man bei beschämenden 26.938. Österreich hat sich 14.400 zum Ziel gesetzt und immehin bisher 2.071 Unterstützende gewonnen. Das entspricht einer Quote von 14,38 %. Im EU-weiten Länderranking aber bedeutet das immerhin Platz zwei. Vielleicht liegt es an Verena Konrad, der smarten, engagirten Geschäftsführerin des v.a.i (Vorarlberger Architektur Instituts), die als österreichisches Mitglied mit Verve um jede Unterschrift kämpft. Im ansonten so geschichtsbewußten Italien steht man gerade einmal bei 1.640 Unterschriften, also 3 %. Allerdings spricht dort die Realität für sich: in Italien sind bereits 64% aller Bauten renoviert, nur 16% werden neu gebaut. Schlusslicht ist Malta, das bisher 0, 23% seines Plansolls erreicht hat. Das entspricht exakt zehn Personen. Da ist noch Luft nach oben und hilft nur eins: Unterzeichnen!
www.houseeueorpe.eu