Aus der Architekturdiskussion und allem, was im näheren und weiteren Sinn damit zu tun hat, ist das nüchterne Wort „Baukultur“ nicht mehr wegzudenken. So gut wie jeder und jede führt es im Munde. Was aber meint es genau? Gedanken zu einem Terminus.
Christian Kühn
Der Begriff „Baukultur“ hat sich in den letzten Jahren als Sammelbegriff für alle Aktivitäten zur baulichen Gestaltung unserer Umwelt durchgesetzt. Wie jede Kultur ist auch Baukultur eine kollektive Praxis: ohne Gesellschaft gibt es keine Kultur. Kultur äußert sich in Werken wie Gegenständen, Bildern, Texten, Musik-, Theateraufführungen. Im Bereich des Bauens zählen dazu Häuser, technische Bauwerke ebenso wie Städte, Dörfer, Gärten und kultivierte Landschaftsräume. Kunst ist ein Teilgebiet der Kultur, das eigenen Regeln gehorcht. Während Werke im Allgemeinen einem Zweck dienen, findet Kunst bis zu einem gewissen Grad ihren Zweck in sich selbst. Der Punkt, an dem Kultur zu Kunst wird, ist nicht fixiert. Nicht jedes Werk der Baukultur muss Baukunst sein. Wichtig ist der Konsens unter den Akteur:innen, dass jedes Werk der Baukultur unabhängig von seinem Zweck das Potential hat, eines der Baukunst zu werden. Ein Krankenhaus, ein Wohnbau, selbst ein Fahrradschuppen können ein Werk der Baukunst sein. Umgekehrt sind weder eine Kathedrale noch ein Regierungssitz nur aufgrund ihres hohen Status von vornherein Baukunst.
Eine hohe Baukultur erkennt man an der Qualität der Werke, in denen sie sich äußert. Zur Erkenntnis dieser Qualität empfahl Otto Wagner: Bei der „Beurteilung eines Bauwerks möge sich der Laie folgender Formel bedienen:
1. Ist die Locierung eines Bauwerks eine richtige?
2. Erfüllt das Werk seinen Zweck in möglichst bester Weise?
3. War die Wahl des Ausführungsmaterials des Werkes eine glückliche und ökonomische?
4. Wurde die praktischste Art der Konstruktion verwendet?
5. Sind die Kunstformen logisch und schöpferisch aus den angeführten Prämissen entstanden?“
Die Begriffe „logisch“ und „schöpferisch“ weisen auf zwei unterschiedliche Zugänge zur Baukunst als gestalterischer Praxis hin: einen rationalen, argumentierbaren und einen bedingt autonomen, im Extremfall irrationalen, der seine Begründung in sich selbst findet. Gelungene Baukunst braucht beides. Otto Wagner hat das in den Seitenrisaliten seiner ersten eigenen Villa aus dem Jahr 1886 auf roten Marmortafeln in Stein gemeißelt. Der linke Risalit zitiert Gottfried Semper: „Sola artis domina necessitas“ – „Nur einen Herrn kennt die Kunst, das Bedürfnis.“ Er steht für die rationale Seite der Baukunst. Der rechte Risalit trägt die Worte: „Sine arte, sine amore, non est vita“. Sie bestätigen sich in der Villa selbst, die vor Lebensfreude zu explodieren scheint.
Baukultur lässt sich nicht nur an ihren Werken messen. Auch ihre Praxis hat Qualitätsmerkmale, die sich von denen der Werke unterscheiden. Während der Werkbegriff sich auf Gegenstände bezieht, lassen sich Baukultur und Baukunst als kontinuierliche Prozesse oder als Abfolge von Zuständen verstehen. Im Unterschied zu einem Werk der Baukultur kann gute Baukultur per se nicht „schön“ sein. Aber sie kann Schönheit als ein wichtiges Kriterium für Werke der Baukultur und der Baukunst anerkennen. Dieser Anspruch ist in Folge mit Leben zu erfüllen.
Die Vermischung von Qualitätskriterien, die auf Werke zugeschnitten sind, mit solchen, die auf Prozesse zugeschnitten sind, führt zu begrifflicher Unschärfe. So definiert etwa das „Davos Qualitätssystem für eine hohe Baukultur“ acht Eigenschaften „hoher Baukultur“, zu denen etwa die Eigenschaften „Ein Ort hoher Baukultur ist schön“ und „Hohe Baukultur erfüllt ihren Zweck“ gehören, die eindeutig werk- und nicht prozessbezogen sind. Die Relativität und Dynamik der Begriffsinhalte von „Schönheit“ und „Zweck“ wird damit nicht ausreichend berücksichtigt. Auch die österreichischen „Baukulturellen Leitlinien des Bundes“ aus dem Jahr 2017 sind von ähnlichen begrifflichen Unschärfen betroffen, allen voran die Formulierung „Gute Baukultur ist schön.“ Als Mitautor dieser Leitlinien erlaube ich mir im Folgenden, eine adaptierte Variante vorzustellen, die begrifflich präziser und um fehlende Aspekte erweitert ist.
- Gute Baukultur ist nachhaltig: Sie sucht den langfristigen Ausgleich zwischen sozialen, ökonomischen, ökologischen und kulturellen Zielsetzungen.
- Gute Baukultur ist innovativ: Sie fordert Konventionen heraus und sucht nach neuen Herausforderungen und Lösungen.
- Gute Baukultur streitet für und um Schönheit: Sie orientiert sich an ästhetischen Maßstäben im Bewusstsein, dass diese nicht absolut sind.
- Gute Baukultur verbindet: Sie bezieht Betroffene in die Gestaltung von Gebäuden und Freiräumen ein. Diese können ihr Wissen und ihre Interessen in transparenten Prozessen einbringen und erfahren mit ihren Anliegen Berücksichtigung.
- Gute Baukultur ist geschlechtergerecht: Sie berücksichtigt die Interessen und Bedürfnisse von Frauen, Männern und Diversen bei der Planung, Umsetzung und Evaluierung aller Konzepte, Projekte und Maßnahmen in gleicher Weise.
- Gute Baukultur ist gesundheitsfördernd: Sie gestaltet Gebäude und Freiräume auf der Grundlage des aktuellen Kenntnisstandes zu Hygiene, Gesundheit und Komfort.
- Gute Baukultur schafft Identität: Sie stellt ästhetisch und technisch hohe Ansprüche an die Gestaltung von Städten, Orten und Landschaften. So trägt sie positiv zum Selbstbild einer Gesellschaft bei.
- Gute Baukultur ist zweckmäßig: Sie führt zu Lösungen, die bedarfsgerecht und wirtschaftlich in Errichtung und Gebrauch sind.
- Gute Baukultur ist ressourcenschonend: Sie geht maßvoll mit der Landschaft und dem Boden, mit bestehenden Gebäuden, mit Energie und Rohstoffen um. Sie legt Wert auf sorgfältige Planung und hochwertige Ausführung bis ins Detail.
- Gute Baukultur ist anpassungsfähig: Sie reagiert robust auf technologische, ökologische, ökonomische und soziale Veränderungen und beachtet die Diversität unserer Gesellschaft
Aufmerksame Leser:innen werden bemerkt haben, dass der Text den Begriff „Architektur“ bisher vermieden hat. Dieser Begriff gehört uns Architekt:innen nicht mehr. Schon Immanuel Kant hat ihn sich in der Kritik der reinen Vernunft als „Architektonik“ angeeignet. Er verstand drunter die „Kunst der Systeme“. Heute entwerfen Systemarchitekt:innen komplexe Softwarearchitekturen, Ökonom:innen sprechen von der Architektur zukünftiger Währungssysteme und Politiker:innen von Sicherheitsarchitekturen.
Ich habe kein Problem damit, den Alleinanspruch auf den Begriff aufzugeben. Die Architektur der Zukunft wird sowieso die Grenzen der etablierten Disziplinen sprengen. Architektur als Kunst der Systeme könnte der „Common Ground“ sein, auf dem sie sich neu formieren.
Zum Autor:
Christian Kühn (geb. 1962), Studium der Architektur an der TU Wien (D.I) und der ETH Zürich (Dr.sc.techn.), Habilitation in Gebäudelehre, seit 2000 Vorsitzender der Architekturstiftung Österreich, Vorsitzender des Beirats für Baukultur im Bundeskanzleramt seit 2015, Komissär der österreichischen Beitrags zur Architekturbiennale in Venedig 2014, freier Architekturkritiker für Zeitschriften und Tagesezeitungen IArchitektur & Bauforum, Die Presse, ARCH + et al), em. Professur, Studiendekan für Architektur und Raumplanung,