Architektur auf Sinnsuche „Wie werden wir zusammen leben?“ Diese weltumspannende, elementare Frage stellte Kurator Hashim Sarkis bei der heurigen 17. Architekturbiennale in Venedig zur Diskussion.
Eigentlich hätte die 17. Architekturbiennale in Venedig letztes Jahr statt finden sollen. Dann kam die Pandemie und alles war anders. Venedig ungewöhnlich leer, die Anreise ungewöhnlich aufwändig, einige Pavillons unfertig, viele QR-Codes. Thematisch weit in Soziologie, Technologie und Wissenschaft ausgreifend, durchmisst diese Biennale alle Lebensformen – von Pilzsporen über Menschen bis zur Erde – und entwirft Szenarien zwischen Dystopie und Idealismus. Keine Architekturbiennale hatte bis dato so stark das Lebendige vor das Gebaute gestellt.
„How will we live together?“ Diese Frage gab Kurator Hashim Sarkis, Architekt, Theoretiker, Dekan am renommierten MIT (Massachusetts Institute of Technology) als Motto aus. Die Pandemie erhöhte die Brisanz. 112 Teilnehmende aus 46 Ländern suchten Antworten, dazu noch 61 nationale Beiträge. Klimawandel, Erderwärmung, Digitalisierung, Polarisierung der Gesellschaft usw. bringen die Architektur als originär raumgestaltende Disziplin an ihre Grenzen. Sie sucht nach einer neuen Rolle in einer Welt im Umbruch.
Am Anfang: der Mensch „Der kleinste Raum fasst zwanzig Menschen, wenn sie ein tiefes Verständnis füreinander haben“, so ein Sprichwort der Yoruba – einer nigerianischen Volksgruppe. Die Hauptausstellung beginnt mit der Installation „Alasiri: Doors for Concealment or Revelation“ des Nigerianers Peju Alatise (Art Accent Studio). Sie besteht aus Türblättern in Rahmen, dazwischen Figuren – naturalistisch, mit Mustern, Federn und Zivilisationsmüll geschmückt. Die Yoruba glauben, dass eine Person wie eine Tür ist: wer sie öffnet, wird Teil ihres Geheimnisses. Man kann die Installation befremdlich plakativ finden, ihre Botschaft ist eindeutig, ihre prominente Position ein Statement. Auch der Körper, die sinnliche Wahrnehmung und das Bilden von Gemeinschaften sind wesentliche Themen. Die Installation „Grove“ des kanadischen Philip Beesley Studio zählt zu den magischten Momenten in der Hauptausstellung im Arsenale. Federartige, kleine, beleuchtete, scheinbar fliegende Strukturen bilden eine Art Nebelschwaden. Wie Bäume stehen Lautsprecher in diesem Blütenregen, aus denen programmierte Geräusche dringen, die vom leisen Flüstern bis zum lauten Tosen reichen. Diese durchschreitbare Installation fühlt sich an wie der Spaziergang durch einen künstlichen Wald. Das große US-amerikanische Büro SOM – Skidmore, Owings & Merrill entwickelte gemeinsam mit der Europäischen Space Agency ESA ein Habitat für die Besiedlung des Mondes, das in seinem Inneren die Schwerkraft wieder herstellt.
Das Projekt „The Complete City: La Palomera, Acknoledgement and Celebration, 2018-2020 “ von Elisa Silva (Enlace Arquitectura, Venezuela) würdigt das Barrio La Palomera in Caracas. In Barrios – lateinamerikanische Armenviertel – lebt zwar die Hälfte der Bevölkerung, sie sind aber nicht als Stadtteil anerkannt. Das Projekt ,verbessert‘ nicht, es sucht und findet Qualitäten. 1,7 Hektar an Wegen, Stiegen, Verzweigungen, Treppenkaskaden, Parks und Gärten durchziehen La Paloma. Hier begegnen einander Menschen und wachsen Nutz-, Heil- und Zierpflanzen. Ein schwebendes Modell und eine Pflanzenenzyklopädie auf Papierbahnen machen den Reichtum und die Fragilität dieses urbanen Biotops sichtbar.
Laura Fregolent (Universität Iuav Venedig) und Paola Malanotte-Rizzoli (MIT) untersuchen in „Resilience of Venice, 2020“, wie die Stadt in einer Symbiose mit der Lagune und dem Tourismus Jahrhunderte überdauerte. Doch das Wasser steigt: 2050 dürfte Venedig rund 81 Tage im Jahr nicht begehbar sein. Die Pflastersteine am Boden sind hier sehr brüchig. Je mehr Menschen je achtloser drüber gehen, umso mehr brechen sie. Am Ende der Biennale wird wohl nur Schotter übrig sein.
Das Anwendungsspektrum künstlicher Intelligenz und digitaler Technologien reicht von 3D-gedruckten Organen, Körpereoptimierung bis zu neuen Methoden ressourcenschonender Energie- und Materialgewinnung. Am beeindruckendsten ist diesbezüglich der Prototyp des „Maison fibre“, der unter Federführung von Achim Menges am Institut für Computational Design and Construction der Universität Stuttgart entwickelt wurde. Die Fasern seiner Fassade erhalten die Zugfestigkeit und Tragkraft von Stahl, sobald sie erhärten. In Stahlrahmen aufgespannt bilden sie eine sehr tragfähige Struktur, die leicht zu recyceln ist. Diese „Maison fibre“ zu begehen, ist auch räumlich sehr spannend – und nicht der einzige Forschungsansatz dieser Biennale.
Plattformurbanismus, made in Austria
Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer, die Kuratoren des österreichischen Beitrags „Platform Austria“ legen eine der interessantesten, wegweisendsten Fährten in die nähere Zukunft menschlicher Interaktion. Sie erforschen das Phänomen Plattform-Urbanismus. „Plattformen haben die Art, wie wir miteinander umgehen – wie wir arbeiten, lernen, einkaufen, uns entspannen und Kontakte knüpfen – komplett verändert“, so Mörtenböck und Mooshammer. Botschaften sind ein wesentliches Element dieser Kultur. „Access Is The New Capital“: Plattformen regeln unseren Zugang zu Arbeit, Gesundheitswesen, Lieferservice. „Sie brauchen ständig Daten, sie sind von der Aktivität ihrer User abhängig.“ Architektur wird zur Selfie-Kulisse, zum möglichst oft geteilten Bild auf Instagram, zur Bühne – und einer Ressource für Daten. Die Kehrseite sind Logistik-Zentren an den Stadträndern, Serverfarmen, Verteilungszentren: Die schöne digitale Welt schafft neue Unorte, an denen teils haarsträubend schlechte Arbeitsbedingungen herrschen.
Der deutsche Pavillon ist komplett leer, einzig QR_Codes zieren die Wände. „2038 The new Serenity“ heißt der Beitrag, den Arno Brandlhuber, Olaf Grawert, Nikolaus Hirsch und Christopher Roth kuratierten. Aus der Perspektive des Jahres 2038 blicken hier unterschiedlichste Protagonisten auf die Pandemie 2020 als historischen Wendepunkt zurück. Man aktiviert sie per QR-Code – bequem auch von zu Hause aus: www.2038.xyz
Paradise lost
Die Kuratorinnen des britischen Beitrags „The Garden of privatised delights“, Manijeh Verghese und Madeleine Kessler (Unscene Architecture) richten den Blick bohrend auf die Privatisierung vormaliger Gemeingüter wie Parks und sogar Pubs, von denen viele Covid nicht überlebten. Stolz führen die Kuratoren des amerikanischen Pavillons, Paul Andersen und Paul Preissner die simple, traditionelle Methode des wood framed house vor. Diese Holzbauweise ist generisch demokratisch: Sie ermöglicht so gut wie jedem, mit wenig Werkzeug rasch und billig ein Haus zu bauen. Über 90 Prozent aller Bauten in den USA sind so errichtet.
Am heroischen Bild der Besiedelung des heiligen Landes rüttelt der von Michael Gov und Arad Turgeman kuratierte israelische Beirag massiv. „Land of Milk and Honey – the Construction of Plenitude“ zeigt, wie stark sich die Gründung Israels auf Natur und Tierwelt auswirkte. Die Landschaft wurde radikal nach europäischen Vorbild umgeformt. Um Ackerland zu gewinnen, legte man Sümpfe trocken. Das entzog dem Wasserbüffel die Lebensgrundlage. Exemplarisch wird das Schicksal von fünf Tiergattungen verfolgt: Kühe, Ziegen, Honigbienen, Wasserbüffel und Fledermäuse. Erschütternd und sehr gut gestaltet.
Alles hängt zusammen
Die Auswirkungen von Armut auf Architektur und Raumplanung zeigt „Fading Borders“ im rumänischen Pavillon. (Kuratoren Stefan Simion und Irina Meliţă). Rumänien hat den höchsten Anteil an Menschen, die im Ausland arbeiten. Seit es 2007 der EU beitrat, verließen 3,7 Mio. Rumän:innen ihre Heimat. Die Folgen sind erschütternd: zwischen 1989 und 2011 sind fast alle Städte geschrumpft, der Großteil hat 30 bis 60% seiner Bevölkerung verloren. Die Filmdokumentation ,Away‘ folgt Migrant:innen ins Ausland. Die meisten arbeiten in der Landwirtschaft monatelang unter haarsträubenden Bedingungen, doch für Rumän:innen sind selbst Löhne unter dem EU-Mindeststandard attraktiv.
Der dänische Pavillon wird zur Versuchsanordnung für einen geschlossenen Kreislauf. „Alles hängt zusammen. Jahrhundertelang lebten Menschen in enger Beziehung zu Tieren und Pflanzen“, so Marianne Krogh, die Kuratorin von „Connectedness“. Dieser Pavillon klinkt sich in den natürlichen Kreislauf ein: Das Regenwasser von Venedig wird gesammelt, tröpfelt, fließt, flutet über den Boden, verdunstet und bewässert die Pflanzen, die hier wachsen. Getrocknet gießt man sie zum Tee auf. Krogh: „Es geht um Empathie. Wir müssen wieder Teil der Welt werden.“
Dieser Artikel ist am 4. August 2021 in der Furche erschienen.